Die eigene Beerdigung ist organisiert, die Todesanzeige verfasst. «Ich muss nur noch das Todesdatum einfüllen», sagt Josef Steinmann. Das Ehepaar ist fast 70 Jahre verheiratet und wird mit Exit in den Freitod gehen. Gemeinsam verlassen sie diese Welt. «Wir freuen uns.»

Der letzte Termin ihres Lebens ist vereinbart. In wenigen Tagen werden Trudy und Josef Steinmann sterben. Ein Schluck Natrium-Pentobarbital wird ihre Atmung lähmen und dafür sorgen, dass der Tod schmerzlos eintritt. In ihrem eigenen Bett werden sie einschlafen. Gemeinsam. Friedlich. Sie werden sich umarmen. «Für uns wird dieser Tag sein wie jeder andere. Unser Warten hat ein Ende», sagt er. «Wir werden endlich erlöst», sagt sie.

Es ist ein kalter Januartag 2024. Die Tür zur Alterswohnung im Casa Güpf öffnet sich schwungvoll. «Kommen Sie rein, bitte», sagt Trudy Steinmann. Beide sitzen auf gepolsterten Stühlen, im Rücken eine wundervolle Aussicht auf Wohlen, im Eck surrt ein kleiner Heizer vor sich hin. «Was möchten Sie wissen?», fragt Josef Steinmann. Durch Zufall erfuhr der Autor dieses Textes, dass sich das Ehepaar gemeinsam mit Exit in den Freitod begleiten lassen will – und fragte an, ob sie ihre Geschichte erzählen würden. «Wenn es jemandem etwas bringt, dürfen Sie gerne vorbeikommen», hat Josef Steinmann am Telefon gesagt. Und nun sprechen die Eheleute offen über ihr gemeinsames Leben und ihren eigenen Tod, der kurz bevorsteht. Trauer ist kaum zu spüren. Erwartungsvoll sehnen sie sich dem letzten Tag entgegen. «Wir haben keine Angst», sagen beide.

Noch einmal an ihren Lieblingsort? «Nein. Es reicht»

Sie kennen sich schon seit Anfang der 50er-Jahre. Gefunkt hat es 1955. Auf einer Tanzveranstaltung in Wohlen machen sie die Nacht zum Tag. Als die Sonne aufgeht und sich der Himmel beginnt lila zu färben, fragt Trudy ihren Schwarm mit den goldenen Locken: «Bringst du mich nach Hause?» Josef antwortet seinem Schwarm mit dem hübschen Lächeln: «Klar.» Er nimmt sie hinten auf den Lambretta-Roller und chauffiert Trudy zu ihr nach Hause nach Sarmenstorf. Er gibt ihr einen Abschiedskuss und sagt: «Ich ha di gern.» Sie sagt: «Danke. Vergiss das nicht.»

Trudy und Josef Steinmann-Karpf

Er hat es nicht vergessen. Am 11. Mai 1957 heiraten sie. Vor über 66 Jahren. Ihr einziges Kind Urs kommt wenig später zur Welt. Er sagte vor einigen Wochen, dass er seine Eltern nie hat streiten sehen. «Das stimmt», bestätigen beide. Sie sind eigentlich immer einer Meinung. Selbst als sie den Entscheid fassen, gemeinsam mit der Sterbehilfe-Organisation Exit aus dem Leben zu gehen, sind sie sich einig. Ihr Hausarzt, Exit und auch Menschen in ihrem näheren Umfeld fragten, ob Josef Steinmann seine Frau beeinflusst habe. «Ich hatte den Gedanken vor ihm», sagt Trudy Steinmann. «Als er die Freitodbegleitung erwähnte, fühlte ich mich bestätigt. Wir wissen, was wir wollen. Schon immer.»

In ihrem Leben haben sie jeden Kontinent besucht. «Es gibt kaum ein Land, das wir nicht bereist haben», sagt das Paar. Ihr Lieblingsort ist die Stadt Montalivet in Frankreich. «In der Nähe von Bordeaux», wie er anmerkt. 36 Mal waren sie da. Möchten sie nicht noch einmal dorthin? Ein letzter Ausflug an ihren Lieblingsort? «Nein, es reicht», sagt Josef Steinmann etwas aufmüpfig.

Sie haben die Welt mit ihren eigenen Augen gesehen. Doch es ist jene Sehkraft, die nun immer schwächer wird. Sie hat eine Makuladegeneration und den grünen Star. «Ich sehe nur noch Kontraste. Es wird immer schlimmer.» Und auch er hat Probleme mit dem Sehen. Seit seiner Jugendzeit ist er auf einem Auge blind. Das andere Auge wird immer schlechter. «Wenn ich Whiskey trinke, erweitert das die Arterien und ich kann wieder besser sehen, zumindest für eine kurze Zeit. Aber es kann ja nicht sein, dass ich jedes Mal einen ‹Aff› haben muss, damit ich lesen kann.» Lesen, Fernsehen, Computer – alles kaum möglich, für beide. «Wir wollen nicht blind sein», sagen sie. «So macht das Leben keinen Spass.»

Das Leben hat aber lange Spass gemacht. 88 Jahre bei ihr, 91 Jahre bei ihm. «Ich wünsche jedem Menschen so ein erfülltes Leben, wie wir es hatten», sagt Josef Steinmann auf die Frage, was denn sein letzter Wunsch sei. Sie nickt zustimmend und sagt leise vor sich hin: «Wir haben alles gemacht, was wir wollten. Wir waren glücklich.»

«Bratwurst. Spaghetti. Alles schmeckt genau gleich»

Und jetzt wollen sie nur noch eines: sterben. Grund dafür ist nicht nur die schwindende Sehkraft. «Unsere Leiden werden immer grösser. Wir sind altersmüde», sagt Trudy Steinmann, die vor Jahren Krebs hatte (der aber wieder verschwand). Er hat jetzt Prostatakrebs. Die Bestrahlung hat er mittlerweile ausgesetzt. «Ich sitze im Stuhl. Ich liege im Bett. Ich starre die Wand an. Ich sehe schlecht, ich kann kaum laufen, ich habe Krebs.» Etwas vom Schlimmsten, wie er sichtlich genervt sagt, ist sein Geschmacksverlust. «Bratwurst. Spaghetti. Es spielt keine Rolle, was ich esse oder trinke, alles schmeckt genau gleich. Nach nichts. So ist doch das kein Leben mehr, oder nicht?», fragt er rhetorisch und gibt die Antwort gleich selbst: «Nein, nein. So macht das keinen Spass mehr.» Trudy Steinmann blickt auf den Tisch und meint leise: «Und ich weiss gar nicht mehr, was ich ihm kochen soll.»

Und so fassten sie den Entscheid, mit Exit selbstbestimmt in den Tod zu gehen. Die Todesanzeige ist verfasst, die Beerdigung organisiert. Sie werden in einer Gartenurne bestattet werden – auf ihrem eigenen Grund und Boden in Wohlen. Nur der Termin mit dem Bestattungsinstitut steht noch aus. «Die werden das bestens machen», ist er überzeugt. Ihre Freunde und Verwandten haben sie über ihr Vorhaben informiert. Fast alle konnten es nachvollziehen. «Wenn wir es den Leuten erzählten, mussten wir sie teilweise gleich selbst trösten und sagen: ‹Bleib stark, es kommt alles gut›», erzählt Trudy Steinmann.

Nicht alle goutieren ihren Entscheid – meist aus religiösen Gründen. Josef Steinmann sagt: «Ich verstehe, wenn fromme Menschen unseren Entscheid nicht nachvollziehen können». Wie steht es um seinen eigenen Glauben? Ist er selbst denn nicht fromm? Für einmal überlegt er länger. «Ich bin kein Kirchengänger.» Nach diesem Satz übertönt der Heizstrahler die eintretende Ruhe im Raum. Man spürt, er will die richtigen Worte finden, weil er weiss, dass es ein heikles Thema ist. «Die Kirche tut viel Gutes. Religion gibt vielen Menschen Kraft. Aber fast jeder Krieg auf dieser Welt ist wegen der Religion, dabei heisst es doch in der Bibel: Du sollst nicht töten.» Ein ungläubiger Blick. Wieder überlegt er auffällig lange. «Wissen Sie, ich bezahlte mein ganzes Leben lang Kirchensteuern. Bei der Beerdigung soll jetzt auch ein Pfarrer kommen und etwas sagen.»

Wenn jemand ein Problem mit ihrem Entscheid hat, soll er es sagen. Ihnen ist es aber egal, ihr Entscheid steht fest. «Im Leben soll jeder Mensch das tun, was ihn glücklich macht, sofern es niemandem schadet.»

«Wieso gehen wir dann nie in den Ausgang?»

Im Sommer 2023 sind sie in die Alterswohnung gezogen. Vorher lebten sie jahrzehntelang in ihrem Haus mit Sauna am Blumenweg in Wohlen – und führten ein glückliches Leben. Dieser Wechsel sei «faszinierend gut» gelaufen. Denn es gefällt beiden auf Anhieb hervorragend im Casa Güpf. «Lage top. Sauberkeit bestens. Alle sind freundlich. Es hat alles, was wir zum Leben brauchen», meint er. «Und wir können nach Hause kommen, wann wir wollen», sagt Trudy Steinmann. Mit einem Lachen fragt er: «Wieso gehen wir dann nie in den Ausgang?»

Sie dachten, sie hätten noch ein paar gemeinsame und schöne Jahre. Jetzt ist es eben nicht so. Innert Monaten geht der Gesundheitszustand von beiden «bachab». «Wir haben unheilbare Leiden, sind den ganzen Tag nur noch in Stuhl und Bett. Uns ist das Leben verleidet», sagt er.

Seit Jahren sind sie Mitglied bei der Sterbehilfeorganisation Exit. Jetzt wollen sie es durchziehen, bevor es nicht mehr möglich ist. «Wenn wir dement sind und nicht mehr selbst entscheiden können, geht das nicht mehr. Dann können wir nicht mehr selbstbestimmt aus dem Leben scheiden. Und wir möchten keine Pflegefälle werden, die vor sich hinvegetieren.» Als der Sterbewunsch in der Vorweihnachtszeit immer konkreter wird, bestellen sie sich die Exit-Unterlagen, vereinbaren ein erstes Gespräch. Mittlerweile steht der Termin fest. Das Todesdatum ist fix. Sie wählen den nächstmöglichen Termin. «Uns wäre es auch früher möglich gewesen», lacht er. «Aber die Exit-Mitarbeiter konnten nicht vorher.»

Trudy und Josef Steinmann-Karpf

Das Rezept für 66 gemeinsame Jahre

Was glauben die beiden, was nach dem Tod passiert? «Wir sind erlöst», sagt sie trocken. Er verliert selbst bei dieser Frage seinen spitzbübischen Humor nicht und meint: «Hoffentlich nichts mehr.» Dass sie beide gemeinsam diese Welt verlassen können, sei «beruhigend». Die meisten ihrer Freunde und Bekannten sind alle schon gestorben. «Jetzt sind wir dran. Irgendwann ist jeder an der Reihe. Keiner bleibt übrig», sagt er. Trudy und Josef Steinmann sind Menschen, die besonders sind. Ein Paar, das 66 Jahre zusammen ist. Was ist ihr Erfolgsrezept für eine glückliche Beziehung? «Danke sagen. Nett miteinander umgehen. Verständnis haben», sagt Trudy Steinmann, die in ihrem Arbeitsleben im ganzen Freiamt Posthalterablösungen übernommen hat. «Ich habe sie nie als mein Eigentum angesehen. Wir sind unseren Weg immer gemeinsam gegangen», sagt Josef Steinmann, der fast ein halbes Jahrhundert lang als Sozialamtsvorsteher auf der Gemeinde in Wohlen arbeitete und 1996 in Frühpension ging.

Beide sagen: «Wir sind glücklich miteinander.» Zu Hause am Blumenweg sassen sie oft in der Sauna, tranken einen Eiercognac, den Trudy selber machte. Regelmässiger Sex sei auch ein Mittel, um glücklich zu sein. «Das Leben zu geniessen, ist nicht so kompliziert. Aber viele Menschen können es nicht.»

«Geniesse das Leben ständig, denn du bist länger tot als lebendig»

Sie konnten es immer. Geniessen. Zufrieden sein mit dem, was man hat. «Wir haben jetzt genug über unsere Leiden gejammert, wir wollen dankbar sein», meint er, ein Liebhaber von Zitaten. Als er gefragt wird, welche Worte er einem 20-jährigen Menschen mit auf den Lebensweg geben würde, antwortet er fast schon philosophisch: «Geniesse das Leben ständig, denn du bist länger tot als lebendig.» Er muss sanft lächeln. «Ich hab noch einen», meint er und hebt seine Hände Richtung Decke: «Im Alter haben Erinnerungen denselben Stellenwert wie in der Jugend die Träume.»

In Erinnerungen schwelgen, das können sie noch. Und das tun sie auch regelmässig. Sie erzählen vom Weltkrieg, als sie mit Essensmarken Brot für die Familie holen mussten. Oder von einer stürmischen Nacht auf einem Schiff, als sie grosse Angst hatten, dass ihr Leben zu Ende geht. Die Melodie «Biskaya» von James Last haben sie damals gehört und sich eng umarmt, während das Schiff von den Wellen hin- und hergeschleudert wurde. Beide lächeln.

Trudy und Josef Steinmann-Karpf

«Komm, gib mit deine Hand»

Der letzte Termin ihres Lebens ist auf 10.20 Uhr angesetzt. Josef Steinmann erklärt: «Früher am Morgen wollen wir nicht. Wir müssen uns ja noch anziehen und bereit machen. Wir wollen keinen Stress haben.» Nebst zwei Exit-Begleitpersonen sind auch Sohn Urs und Neffe Rolf Steinmann dabei. Rolf arbeitet beim Bestattungs- und Friedhofamt der Stadt Zürich. «Für ihn ist es quasi eine Gratis-Weiterbildung», sagt Josef Steinmann lachend.

Der Termin war am Montag, 29. Januar. Trudy und Josef Steinmann sind an jenem Tag gestorben. Ein Schluck Natrium-Pentobarbital hat ihre Atmung gelähmt und dafür gesorgt, dass der Tod schmerzlos eingetreten ist. «Das geht rasch», waren sich beide sicher. Drei Minuten dauerte es bei ihr, fünf Minuten bei ihm. In ihrem eigenen Bett sind sie eingeschlafen. Gemeinsam. Friedlich. «Komm, gib mir deine Hand», waren seine letzten Worte an sie.

Es sei alles reibungslos verlaufen, erzählt ihr Sohn Urs Steinmann. «So, wie sie es sich wünschten», fügt er an. Und wie geht es ihm? Nach 66 Jahren verliert er beide Eltern an einem Tag. «Sie waren glücklich mit diesem Entscheid und haben es durchgezogen. Also stimmt es auch für mich.» Er sei traurig, natürlich. Doch er sei auch dankbar, dass er seine Mutter und seinen Vater so intensiv verabschieden konnte.

Wenige Tage vor dem Exit-Termin und ihrem selbstbestimmten Tod konnten Josef und Trudy Steinmann diesen vorliegenden Text über sie noch lesen – beziehungsweise hören. Der Autor liest ihnen jede Zeile behutsam vor. Sie hören gespannt zu, beide beginnen zu weinen, beide müssen an manchen Passagen auch lachen. «Wundervoll. Passend. Danke», findet Trudy Steinmann. «Sie haben mich zum Weinen gebracht», sagt Josef Steinmann. Nur ein Detail haben sie am Text auszusetzen. Etwas passt ihnen ganz und gar nicht: «Unser Lieblingsort Montalivet ist keine Stadt, sondern ein Dorf.»