Wie in einem Märchen. Luise Schellenberg haust alleine auf Schloss Hilfikon. Und das seit über 50 Jahren. Sie lebt zurückgezogen. Besuch kommt selten. Einsam ist die 96-Jährige aber nicht. «Ich habe ja meine Pfaue», sagt sie.

«Riechen Sie mal.» Luise Schellenberg sitzt auf einer grünen Parkbank vor ihrem Schloss und streckt dem Journalisten einen Myrtenzweig entgegen. «Das riecht doch wunderbar, nicht?», fragt sie. Es ist der erste schöne Frühlingstag nach einem harten Winter. Blauer Himmel. 20 Grad. Zufrieden hockt sie da. Weisses Kopftuch. Schwarzer Pullover. Schwarze Hose. Dunkle Sonnenbrille. Sie zitiert einen Vers: «Der Frühling lässt sein blaues Band wieder flattern durch die Lüfte, süsse wohlbekannte Düfte schmücken ahnungsvoll das Land.» Sie lächelt.

Die Geschichte, warum sie das Schloss gekauft hat, ist eindrücklich. Im Frühling 1961 fuhr sie mit ihrem Vater an den Sempachersee um zu angeln. Auf der Heimfahrt nach Dietikon, kamen die Beiden am Schloss Hilfikon vorbei. «Papi, sieh Mal, wie wunderschön», sagte die damals 55-Jährige. Zu Hause angekommen, erkundigte sie sich über das Schloss und sah, dass es zum Verkauf ausgeschrieben war. Rund ein halbes Jahr später konnte sie das Schloss ihr Eigen nennen. Bezahlt hat sie das Schloss zu zwei Dritteln mit ihrem Angesparten. Den Rest bezahlte ihr wohlhabender Vater.

Seit 1961 lebt Schellenberg auf dem Schloss in Hilfikon. «Damals hiess es, eine Frau aus dem Sündenpfuhl habe das Schloss gekauft» erzählt sie. Sie ist eine Zürcherin. Und Protestantin. Im katholischen Freiamt sorgte das damals für Diskussionsstoff. Schellenberg machte das grosse Schloss im kleinen Dorf Hilfikon nach und nach bewohnbar. Sie liess die Installationen für Wasser, Strom und Heizung erneuern. Restaurierte viele der insgesamt 26 Räume. Steckte viel Herzblut in das Schloss.

Im Garten legte sie selbst Hand an. Das nötige Know-how dazu wurde ihr in die Wiege gelegt. Aufgewachsen ist Schellenberg – geborene Kölliker – im Gärtnereibetrieb ihres Vaters. Er war später Mitbegründer der Zürcher Blumenbörse. Im Laufe der Zeit eröffnete sie in Zürich selbst fünf Blumenläden. Den letzten der fünf Läden gab sie erst 2005 auf. Als sie 87 Jahre alt war. Ihr Geld hat sie hart erarbeitet. Auch heute schuftet die tüchtige Frau jeden Tag. In Haus und Garten. «Wir sind hier um zu arbeiten. Das ist der Sinn des Lebens», sagt sie.

«Das hat sonst niemand»

Die Seniorin blüht im Inneren des Schlosses richtig auf. Sie erweckt längst vergangene Geschichten wieder zum Leben. Seit Jahrzehnten sammelt sie Antiquitäten aus aller Welt. In einem dunklen, langen Korridor bleibt sie ruckartig stehen. «Hören Sie mal». Schellenberg dreht an der Kurbel eines Polyfons, dem Vorgänger des Grammofons. Rund 100 Jahre alt. Eine kindliche Melodie ertönt in den alten Gemäuern. «Klingt das nicht herrlich?»

Viele Dinge im Schloss sind eine Sehenswürdigkeit für sich. Man fühlt sich wie in einem Museum. Und Schellenberg führt begeistert durch ihr selbst erschaffenes Reich. Auf sechs Etagen stehen Tausende von Antiquitäten. Eine Truhe aus dem Jahre 1693. Eine «Herdöpfelstock»-Maschine. Cirka 100-Jährig. Eine (volle) Champagner-Flasche von 1858. Ein Schrank, der vor mehr als einem Jahrhundert erbaut wurde, gefüllt mit Puppenfiguren aus Tschechien. Und so weiter. «Das hat sonst niemand», sagt Schellenberger immer wieder.

Jedes Ding hat seine Nummer

Während sie durch die Korridore schlurft erzählt sie die Geschichten der einzelnen Gegenstände. Sie gestikuliert vor den Antiquitäten, zeigt mit etwas zittriger Hand auf die besonderen Details. Wenn sie fertig ist mit Reden, achtet sie kurz auf die Reaktion des Gegenüber. Und grinst dann meist. «Fühlen Sie mal. Das ist echte Seide aus China. Ist das nicht schön sanft?», fragt sie und ist bereits unterwegs zur nächsten «Geschichte».

Bei einigen Objekten bleibt sie stehen, verweilt, und erzählt ausführlicher. Wo, wann und für wie viel Geld sie das Stück erworben hat. So wie jedes Ding seine Geschichte hat, hat auch jedes seine Nummer. In Ordnern hat sie die Quittungen und Notizen dazu abgelegt. «Ich hänge an Gegenständen, die vor meiner Zeit waren. Antiquitäten sind mein Hobby. Sie sind schön und nicht von gestern», sagt sie. Früher habe sie Briefmarken gesammelt, «ich weiss eigentlich gar nicht wieso».

Antiquitäten passen besser zu Schellenberg. Objekte, die einiges erlebten und vieles durchmachten. Wie sie. In ihrem Leben wohnte sie in vielen Ländern. Darunter Syrien und Venezuela. Sie brachte drei Kinder zur Welt. Heute hat sie vier Urenkel. Mit «Leutnant Schellenberg», wie sie ihren Ex-Mann nennt, hatte sie drei Kinder. Sie liess sich aber von ihm scheiden. «Wegen dem Alkohol», sagt sie. Später machte er ihr nochmals den Hof. Ein Jahr lang dachte sie über den Heiratsantrag nach. Um ihm dann doch einen Korb zu geben. Schellenberg ist emanzipiert. Hat eine klare Meinung. Sie ist SVP-Anhängerin. Ihre liebste Lektüre ist die «Weltwoche».

In ihrem Leben hatte sie im Grossen und Ganzen viel Glück. «Heute habe ich eine grosse Familie in der Schweiz und in Kanada. Und alle sind gesund und tüchtig.» Bilder, Postkarten und Erinnerungsstücke ihrer Familie sind ebenfalls im Schloss zu finden. Trotz ihrer 96 Jahre hat Schellenberg Power. Sie redet fast ununterbrochen. Manchmal wechselt sie jäh das Thema. Und brabbelt dann unverblümt weiter.

Einzig im Zimmer ihrer Tochter Viola wird sie plötzlich leise. Sie deutet auf eine Zeichnung. «Viola hat das gemalt», sagt sie mit sanfter Stimme. Schellenberg wirkt bedrückt. «Sie wusste, dass sie geht.» Ihr blickt schweift aus dem Fenster. Vor rund 20 Jahren nahm sich ihre Tochter das Leben. Die Mutter beschreibt es heute als «den härtesten Schicksalsschlag im Leben».

«Kommen Sie nächste Woche wieder»

Als die rüstige Seniorin das Zimmer ihrer verstorbenen Tochter wieder verlässt, hallt plötzlich eine Stimme von unter herauf durch das Schloss. «Frau Schellenberg? Sind Sie da?» Eine Frauenstimme. Es klingt wie geflüstertes Schreien. Die «Schlossherrin» hört nicht mehr so gut und kriegt zuerst nichts davon mit. Die Stimme kommt immer näher. «Hallo Frau Schellenberg.» Auf der obersten Treppenstufe in der dritten Etage bleibt Schellenberg stehen, blickt nach unten und sagt: «Ach, ich habe Sie ganz vergessen.» Am unteren Ende der langen Treppe steht eine junge Frau, Mitte 20. Von der Spitex. «Entschuldigung. Ich habe noch Besuch. Können Sie nicht nächste Woche wiederkommen?», fragt Schellenberg. Die Frau von der Spitex entgegnet: «Wollen Sie nicht duschen?» Schellenberg schüttelt den Kopf: «Nein nein. Mein Besuch kann nicht so lange warten. Wissen Sie. Ich wasche mich in der Zwischenzeit selbst. Kommen Sie nächste Woche wieder.» Es scheint fast so, als wolle sie die Spitex-Dame abwimmeln. Was ihr auch gelingt. Als die Frau von der Spitex, die einmal wöchentlich vorbeikommt, wieder unten angekommen ist, nuschelt Schellenberg: «Es muss halt sein. Ich habe eine heikle Haut. Aber ich mag das nicht so.» Die 96-Jährige ist gern selbstständig.

Selbst bei Sachen, die ihr schwerfallen. So zum Beispiel beim Treppensteigen. Obwohl das Schloss einen Lift hat, geht sie oft zu Fuss die Treppen rauf und runter. «Im Lift kriege ich Platzangst und Treppensteigen ist gesund.» Auch in ihrem hohen Alter, will sie alles alleine machen.

Luise Schellenberg

«Wo sind die Weiber?»

Nach der Zeitreise durchs Schloss will Schellenberg noch den Garten zeigen. Kurz bevor sie aus dem Schloss tritt, bleibt sie abrupt stehen: «Hier frühstücke ich meist. Ein gutes Nusskernen-Brot, manchmal Traubensaft. Und Honigaufstrich. Hhhhmmm...Warten Sie.» Schellenberg zeigt ein Glas voller Honig. «Schmecken Sie mal. Das mundet fantastisch, oder nicht?» Kaum gesagt, ist sie wieder fünf Schritte voraus. Auch wenn sie langsam auf den Beinen ist, leicht hinkt, so hat man Mühe mit ihr Schritt zu halten.

Sie flaniert aus dem Hinterausgang des Schlosses. Nach einigen Schritten kommt ihr ein Pfau entgegen. Als wollte er der «Prinzessin des Schlosses» seine majestätische Pracht zeigen, öffnet er sein Rad vor ihr. «Grüezi Pahlevi. Wie gehts dir? Wo sind die Weiber?» sagt sie keck zum Pfau. Dabei bewundert sie sein Gefieder. «Sehen Sie sich das mal an. Ist das nicht unglaublich schön?» Minutenlang steht der Pfau vor ihr. Tänzelt hin und her. Die Schlossherrin verschränkt ihre Arme hinter dem Rücken und bestaunt ihn genüsslich. Dabei kichert sie immer wieder wie ein kleines Mädchen.

«Ich gehe kaum noch weg. Besuch kommt selten. Ich mag halt nicht mehr so wie früher. Einsam bin ich aber nicht. Ich habe meine Pfaue», sagt sie. Insgesamt leben fünf Pfaue auf dem Schloss Hilfikon. Einer heisst Pahlevi, einer Soraya, genannt nach dem letzten Kaiserpaar von Persien. Ein anderer heisst «Hinkebein». «Der ist mal hängen geblieben», sagt sie lachend.

«Keinen Unterschied, einfach anders»

Als Pahlevi sein Rad wieder schliesst, setzt sich Schellenberg auf die grüne Parkbank vor ihrem Schloss. Angesprochen auf ihr langes Leben und was sich alles geändert hat im Laufe der Zeit, sagt sie: «Es gibt keinen grossen Unterschied zu früher. Es ist halt alles anders.» Vor dem Tod hat sie keine Angst. «Fragen Sie den Chef da oben, wenn er mich abruft.» Sie streckt ihren Zeigefinger zum Himmel und kichert wieder leise. Dann schaut sie zu Boden. Atmet tief durch und zitiert den italienischen Dichter Michelangelo Buonarroti: «Wer sagt, ich sterbe? Ich wechsle nur die Räume, und gehe durch eure Träume.»

«Luise Schellenberg starb 2015 im Alter von 97 Jahren».