«Blopp». Das leise Geräusch, wenn eine Nadel die Haut durchbohrt. Es fährt brutal ein. Vor allem wenn man vorsätzlich einen anderen Menschen damit verletzt. Passiert ist mir das, als ich bei meinen Eintagesjob Jemandem ein Piercing stechen durfte.

«Redaktoren schnuppern». Die Serie gibt uns Redaktoren die Chance, in ein anderes Mettier zu schauen. Ich wollte etwas ausgefallenes tun. Ich entschied mich, einen Tag als Piercer zu verbringen. Judith Frey, von der Boutique «Flower Power» in Wohlen, war einverstanden.

Warum gerade Piercer? Ich selbst bin absoluter Verfechter von Körperschmuck dieser Art. Ich möchte ihn nicht und finde ihn auch nicht besonders schön. Es fasziniert mich aber, wie man Piercings macht und warum sich Menschen das antun. Das moderne Piercing ist weit verbreitet. Etwa jeder Zehnte Schweizer hat eins. Ich selbst werde nie eins haben. Noch heftiger als Piercings im Gesicht und am Oberkörper finde ich Intimpiercings. Wie kann sich ein Mann freiwillig einen «Prinz Albert» machen lassen? Das Prinz-Albert-Piercing verläuft von der Harnröhre ausgehend durch die untere Peniswand. Autsch.

Themawechsel: Los gehts beim «Flower Power» um 10 Uhr. Es ist ein Mittwoch. Eigentlich hat das «Flower Power» geschlossen. Ferienzeit. Aber Inhaberin Judith Frey öffnet die Türen trotzdem. Erstens weil ich da bin. Zweitens, weil sie Büroarbeiten zu tun hat und sowieso im Geschäft ist.

Das erste was ansteht: Sauber machen vor dem Laden. Weil das Geschäft an der Wohler Zentralstrasse gleich an der Hauptstrasse liegt, ist es oft dreckig. Kein Problem. Mit «Schüfeli und Bäseli» erledige ich die Arbeit. Das nächste: Kleiderständer vor den Laden stellen.

Die Boutique «Flower Power» gibts seit dem 1. Januar 1997. Früher bestand der Kundenkreis meist aus Schülern. Heute ist es gemischt. Verkauft werden Tabak-Utensilien, Shishas, Kleider, Silberschmuck, Räucherstäbchen sowie spezielle Geschenke. Und seit 2006 auch Piercings. Judith Frey hat in Lugano eine Piercings-Schule besucht, weil die Nachfrage nach dem Körperschmuck immer grösser wurde. Ihre Mitarbeitering Roberta Caruso arbeitet zu 70 Prozent im Laden, und das seit rund 10 Jahren. Ein grosser Teil des Geschäfts wird mit Piercing gemacht. Die Fachberatung im «Flower Power» scheint professionel zu sein. Auch für die Nachbetreuung kann man jederzeit im Geschäft vorbeikommen.

Meine nächste Aufgabe: Sterile Piercings vorbereiten. Ein komplizierter Vorgang. Und eine Sissifus-Arbeit. Ich halte mich kurz: Mit dem Schweissgerät kleine Säckchen auf einer Seite zuschweissen. Auf die Piercings, die aus Bioplast bestehen, wird ein Gewinde geschnitten und die Titankugel darauf geschraubt (zum Piercen darf nur Titan- oder Bioplastschmuck verwendet werden). Diese werden in die Säckchen gepackt, zugeschweisst und in den Autoclav geschmissen. Hä? Autoclav? Frey erklärt, «das ist ein verschliessbarer Druckbehälter.welcher mit Dampf und Hitze den Schmuck und die Instrumente sterilisiert.» Danach kann der sterile Schmuck zum Piercen verwendet werden. Also sie dürfen unter die Haut gehen quasi.

Wir werden bei der Arbeit unterbrochen. Ein Mann – cirka 25 Jahre alt – kommt rein. Judith Frey kennt ihn – sie begrüsst ihn freundlich. Der Mann kauft Zigarettenpapierchen und ein Feuerzeug. Minuten später die nächste Kundschaft. Ein 15-jähriges Mädchen betritt mit ihrer Mutter den Laden. «Sie würde gerne ein Piercing stechen lassen», sagt die Mutter und verdreht dabei die Augen. Weil die junge Frau erst 15 Jahre alt ist, braucht sie die Unterschrift der Mutter. Die Jungendliche freut sich riesig. «Hast du Angst?», frage ich sie. «Ein bisschen». Die junge Frau strahlt dabei über beide Ohren. Die Mutter sagt zu ihr: «Ich habe dir gesagt, wenn die Schulnoten stimmen, darfst du dir diesen Wunsch erfüllen.»

Judith Frey geht mit ihr in ein kleines Nebenzimmer, zieht die Gummi-Handschuhe an. Ich habe die Erlaubnis, zuzusehen. Frey desinfiziert die Stelle am Ohr. «Sauberkeit ist das A und O», sagt sie. Ein Eisspray betäubt die Stelle zudem. Alles geht schnell. Ich kann kaum zusehen, schon ist es vorbei. «Hat es weh getan?» frage ich. «Geht so, sagt die junge Frau. Piercerin Frey hält ihr einen Spiegel hin. Die Durchbohrte lächelt. «Danke.»

Für mich stellt sich die Frage: Wie kann man sich bloss freiwillig durch die Haut bohren lassen und Schmerzen antun? Für mich ist ein Piercing völlig unverständlich. Aber anscheinend stossen wir Menschen schon seit Jahrtausenden irgendwelche Dinge durch unseren Körper. Das gezielte Durchstechen verschiedener Haut- und Körperstellen als traditioneller Körperschmuck wird seit Jahrtausenden von zahlreichen Kulturen praktiziert. Die frühesten Belege in Form von Schmuck oder Zeichnungen lassen sich bis auf 7000 Jahre zurückdatieren.

Ich will von der jungen Frau wissen, was der Grund ist für ihr Piercing. «Weils schön aussieht», sagt sie. Als die Mutter mit ihrer Tochter das «Flower Power» verlässt, sagt die Mutter: «So, Thema abgeschlossen». Beide sind glücklich: Die Tochter wegen dem neuen Piercing. Die Mutter, weil die Diskussionen nun ein Ende haben.

Einmal zugeschaut und schon darf ich selbst ein Piercing stechen. Das Ganze ist allerdings nur möglich, weil sich Manuel Frey dazu bereit erklärt. Er ist ein guter Kumpel von mir. Und vertraut mir natürlich. Noch mehr vertraut er aber seiner Mutter Judith Frey. Zuerst war ein Nippelpiercing gedacht. Die fürsorgliche Mutter kann das mit Argumenten wie «tut sehr weh und da kann einiges schiefgehen, wenn dieses von einem nicht geübten Praktikanten gemacht wird abwenden.

Ein Piercing durch das Ohr darf ich ohne Bedenken machen. Ich freue mich, zum ersten –und höchstwahrscheinlich letzten Mal – ein Piercing zu stechen. Vorneweg: Judith Frey ist immer an meiner Seite und schaut, dass ich alles richtig mache. Mein Kumpel Manuel liegt auf den Schragen. Zuerst desinfisziere ich das Ohr. Den Ein- und Austrittspunkt des Stichkanals markiere ich mit einem Stift. Mit einer Klemme halte ich das Läppchen fest. Der grosse Moment rückt näher. Manuel wird nervös. «Hast du alles im Griff?». Die Mutter antwortet für mich: «Ja. Lass ihn. Er ist konzentriert.» Ich nehme eine sterile Einwegnadel zur Hand.

Das geht unter die Haut

Ich setze an zum grossen Stich. Was bei Judith Frey noch ruck-zuck ging, braucht bei mir ein wenig Zeit. Ich muss vorsichtig sein, damit ich nicht gleich nachdem ich das Ohrläppchen durchbohrt habe, noch in den Hals steche. Vorsichtig setze ich die Nadel auf die Haut. Drücke immer fester. Bis es schliesslich «Blopp» macht und die Nadel die Haut durchdringt. «Ist es durch? Ich spüre nichts», sagt Manuel. Danach setze ich den Schmuck ein. Zuerst den Ring.

Und jetzt beginnt die zweite Herausforderung. Die kleine Kugel muss noch mit Hilfe einer speziellen Zange in den Ring geklemmt werden. Eine Sissifus-Arbeit. Bei der Trockenübung ging das noch relativ zackig. Jetzt – wenn ein Mensch daran «hängt» – ist es einiges schwieriger. Nach fünf Versuchen hab ich es geschafft. Auch da ist höchste Vorsicht geboten. Mit der Zange in der Hand könnte jede falsche Bewegung ins Auge gehen (im wahrsten Sinne des Wortes).

Manuel schaut sich das Werk im Spiegel an. Es blutet kaum. «Wow. Nicht schlecht», sagt er. Für ihn ist es nur ein temporäres Piercing, er entfernt es Minuten später. Den Weltrekord hält übrigens eine Amerikanerin, die 3200 temporäre Piercings an einem Tag machen liess. Für mich hat eins völlig gereicht. Ein Piercing möchte ich immer noch nicht. Aber ich weiss nun immerhin wie man eins Stechen müsste.