«Lachen steht mir nicht. Ich bin mehr der ernste Typ.» Jacky Sauter sagt diesen Satz, ohne dabei zu lächeln. Und doch versprüht er eine unglaublich positive Kraft. Er hat in vielen Jahren 1000 FCW-Junioren trainiert. Heute ist er 86 Jahre alt und lebt seit Kurzem im Pflegeheim. Manchmal langweilt er sich so stark, dass er Fussballspiele zwei Mal ansieht.

Das Ding mit dem Sterben. «Ja. Manchmal beginnen die Gedanken im Kopf zu drehen.» Jacky Sauter, 86 Jahre alt, hat sich schon seit Längerem mit dem Thema befasst. Er hat sich Broschüren der Sterbehilfe-Organisation «Exit» bestellt. «Ich wollte wissen, was das genau ist», sagt er. Und? «Nichts für mich.» Was ist das Härteste am Senioren-Dasein? «Langeweile.» Erst recht, nachdem er vor sechs Jahren seinen Führerausweis abgegeben hat. Freiwillig. Er hat sich daraufhin ein General-Abonnement der SBB gekauft. Seither erkundet er die Schweiz mit dem Zug. Und er kommt viel herum. «Das hilft gegen die Langeweile.»

Frieda bei der «Heuwoog»

Basel. Hier startet die imaginäre Reise. Der Zug fährt langsam in den Bahnhof ein. Jacky Sauter blickt aus dem Fenster. «Hier habe ich meine Frau Frieda kennengelernt.» Es war wohl Anfang der 60er-Jahre. Frieda Rieder war eine fesche Österreicherin, arbeitete in einer Beiz nahe der «Heuwoog». Jacky Sauter arbeitete ebenfalls in Basel, als Radio- und TV-Elektroniker. «Ich war oft Gast in der Beiz, wo Frieda arbeitete. So entstand eine Verbindung», sagt er. Verliebt, verlobt, verheiratet. Das Produkt dieser Liebe heisst ebenfalls Jacky – und kam 1968 zur Welt. Vielleicht ist die Liebesgeschichte von Jacky und Frieda Sauter-Rieder romantisch. Doch er erzählt sie sachbezogen und pragmatisch – ohne Gefühlsduselei. Und doch drückt plötzlich ein kleiner Romantiker durch. «Sie war meine absolute Nummer 1.» Das Paar lebte in einem grossen Haus an der oberen Halde in Wohlen, «schon immer.» Drei Jahre ist es nun her, als seine Frieda starb. Herzpro­bleme. Ein halbes Jahrhundert gemeinsam. Nun ist sie weg.

Der Zug verlässt Basel und schlängelt sich auf den Schienen entlang der Schweizer Grenze. Auf die Frage: «Wie geht es dir?», antwortet er: «Ich fühle mich nicht unwohl. Es gibt Tage, da geht es mir sehr gut. Und an anderen Tagen, da bin ich müde. Sein Arzt sage ihm jeweils, er sei nicht mehr der Jüngste. «Das stimmt», meint er und beginnt die «Baustellen» aufzuzählen. Eine Blasen-Operation, Probleme mit der Makula im Auge, eine Panik-Attacke, die ihn für wenige Tage ins Spital brachte, und aktuell eine Entzündung am Rücken. «Ja, ja, man wird nicht jünger.»

Der Zug stoppt in Stein am Rhein, Kanton Schaffhausen. Hier ist er aufgewachsen. Geboren am 6. Juni 1933. Er hat noch eine Schwester, mit der er seit langer Zeit keinen Kontakt mehr hat. Über seine Eltern spricht er wenig. Sein Vater hiess Jacques, genau wie er. Und auch sein Sohn trägt denselben Namen. Drei Genera tionen, dreimal der gleiche Name. Wieso? Er sei «mehr oder weniger von seinem Vater gezwungen worden, diesen Namen zu geben.»

«Summa Summarum ist das mein Lieblingsort»

Und weil es hier nichts mehr zu erzählen gibt, fahren wir weiter. Nach Altdorf im Kanton Uri. Hier am Bahnhof steigt Jacky Sauter um. Erst auf den Bus, dann aufs Schiff, und schliesslich geht es mit der Standseilbahn weiter. «Alles mit dem GA», sagt er und lächelt fast. Am Ende ­dieser Reise ist er in der Gemeinde Seelisberg am Vierwaldstättersee. «Summa summarum», sagt er, «ist das mein Lieblingsort.» Hier erzählt er von seinem Sohn Jacques. Doch er nennt ihn Jacky. Neben Frieda sein grosser Stolz. «Wenn ich einmal sterbe, dann habe ich nur zwei Wünsche offen. Erstens: Es soll Jacky gut gehen. Und zweitens: Die restlichen Menschen auf diesem Planeten müssen achtsam sein, damit die Welt nicht kaputt geht. Der Umweltschutz ist so wichtig wie nie zuvor.»

Von der Innerschweiz fährt der Zug weiter ins Freiamt. Nach Wohlen. Hier, wo er eine Koryphäe ist. Hier, wo alles begann. Auf seinem «Podest des Lebens» stehen die drei wichtigsten Dinge. Seine Frau Frieda und sein Sohn Jacky «stehen auf Platz 1». Danach kommen die 1000 Fussball-Junioren, die er trainierte. «Das wars.» Er steigt am Bahnhof Wohlen aus, die Sonne scheint. Er trägt eine Mütze und eine dunkle Sonnenbrille. Wieso hat es ihn in den 60er-Jahren genau hierhin verschlagen? Wer nun eine spektakuläre Geschichte erwartet, wird enttäuscht. «Reiner Zufall», sagt Jacky Sauter. Gemeinsam mit seinem Geschäftspartner Rolf Borkovec war er auf der Suche nach einer Lokalität für ihr neues Radio- und TV-Geschäft. In Wohlen wurden sie fündig. Gleich vis-à-vis des berühmten «Chäbers», der sich in der Anfangszeit befand, florierte ihr Laden. «Es war lukrativ.» Auch weil der Farbfernseher Ende der 60er-Jahre aufkommt. Später zieht «Sauter und Borkovec» um an die Zentralstrasse. Dort wird er bis vier Jahre nach seiner eigentlichen Pensionierung arbeiten – und das mit grosser Freude.

Jacky in der Niedermatten

«Ehrlich, ich war ein guter Fussballer»

Jacques, wie ihn niemand nennt, geht zu Fuss weiter zur Bullenbergkreuzung kurz vor Villmergen. Hier, wo heute der Lidl steht, war bis vor 15 Jahren die Paul Walser-Stiftung, der Fussballplatz des FC Wohlen. Hier verbrachte der Fussball-Fanatiker viel Zeit. Bevor er Mitte der 60er-Jahre nach Wohlen zügelte, kickte der Flügelstürmer bei Concordia Basel in der 1. Liga – und wurde sogar ins Probetraining des FC Basel berufen. Gereicht hat es nicht. «Aber ehrlich, ich war ein guter Fussballer.» Er wechselt dann zum FC Wohlen. Nach seiner Aktivzeit spielt er bei den Senioren. «Praktisch auf Lebzeiten.»

Jacky Sauter war ein halbes Jahrhundert beim FC Wohlen und übte eigentlich jedes Amt aus, «ausser Präsident». Er war Trainer, Spiko-Präsident, Junioren-Obmann und Vorstandsmitglied. Heute ist er ein Urgestein, eine Koryphäe, eine lebende Legende. Nur einmal verliess er den FC Wohlen. Zwei Jahre FC Baden, zwei Jahre Grasshoppers. «Hanjo Weller hat mich ‹mitgeschleift›», meint er heute. 1999 kam er zurück. Und ging nie wieder.

Seine «Pampers»

Es geht weiter mit dem Bus in die Sportanlage Niedermatten. Auf den Trainingsplätzen hier war er stets mit verschränkten Armen zu sehen. Eine «Dächlichappe» auf dem Kopf. Und eine besondere Art, mit den Kindern umzugehen. Beginnt er von seinen «Pampers» zu sprechen, dann sprudelt es aus ihm heraus, er redet schneller. Er sucht keine Wörter mehr, wirkt nicht vergesslich, nicht alt. Sondern nun beginnt es wieder zu brennen: das Feuer für den Fussball. Imposant, seine väterliche Art, mit den Kindern umzugehen. Beeindruckend, sein Gespür für Kameradschaft und zwischenmenschliche Beziehungen. Aussergewöhnlich, wie er mit seiner ruhigen Art bei den Eltern, Kindern und dem ganzen Umfeld des Juniorenbereichs auftrat. 2012 wurde er vom Aargauischen Fussballverband zum «Funktionär des Jahres» gewählt. Ein Tropfen auf den riesigen Stein der Dankbarkeit, den man Jacky Sauter schuldet. Das wahre Ausmass seines Lebens und Schaffens spürt man erst, wenn man mit seinen ehemaligen Junioren spricht.

Jacky Sauter hinterliess auch an anderen Stellen seine Spuren. Mitglied der Jagdgesellschaft Wohlen, Mitglied der Schulpflege Wohlen (inklusive Präsident 1982 bis 1985) und Mitglied der Baukommission der Sportbauten Niedermatten. Er setzte sich für die Gemeinde und die Menschen hier in Wohlen ein. Doch sein Schaffen als Juniorentrainer ist das, was ihn am meisten auszeichnete. «Wieso Juniorenfussball?», wird er gefragt. Nun lächelt er das erste Mal(!). Jedenfalls ein bisschen. «Es hat mir einfach zugesagt. Kinder sind ehrlicher als Erwachsene.»

Magisch, mit ihm durch die Niedermatten zu laufen

Vor drei Jahren hat er aufgehört. «Gesundheitlich ging es nicht mehr», so Sauter. Mit 83 Jahren war genug. Endgültig. Quasi sein Nachfolger, wenn man dies in Anbetracht seines gigantischen Schaffen so sagen kann, ist Marcel Amrein. Der neue Juniorenobmann ist wie Jacky ein Typ mit grossem Herz für die kleinsten Kicker. Er holte den «Meister» vor wenigen Wochen ab und nahm ihn mit an ein Spiel der U10- und U11-Junioren. Diese Jungs waren die letzten, die Sauter in seiner langen Karriere trainierte. Magisch sei es gewesen, mit ihm durch die Niedermatten zu laufen, erzählt Amrein. Kinder, Jugendliche, Erwachsene, Junioren, Aktivspieler, Trainer, Männer, Frauen, Eltern – sie alle haben ihn herzlich gegrüsst. Alle hatten Freude, Jacky zu sehen. In der Pause sass Sauter auf der Bank und durfte das letzte Wort an die Junioren richten, bevor diese wieder auf den Platz spurteten.

Bifang? «Gut»

Jacky Sauter sitzt im Alters- und Pflegeheim Bifang in Wohlen. Nach dem Tod seiner Frau Frieda schien das Haus immer grösser zu werden und er musste sein zu Hause verlassen. Nach Startschwierigkeiten gefällt es ihm nun im Bifang. Betreuung? «Gut.» Organisation? «Gut.» Küche? «Auch gut.» Gibt es was zu reklamieren? «Manchmal ist mir langweilig», meint er. Dann schaut er Sport im TV. Eishockey, Handball, Tennis. Und natürlich Fussball. Als ehemaliger TV-Elektroniker und Sportfan ist es klar, dass er ein Abo besitzt, um möglichst viel Live-Sport im TV zu sehen. Die Langeweile, sie ist trotzdem da. «Spannende Spiele schaue ich mir deshalb zwei oder drei Mal an.» Wir sind am Ziel der imaginären Zug-Reise angekommen. Die Ausflüge mit dem GA der SBB in der ganzen Schweiz, sie werden immer seltener. Er ist nicht mehr der Jüngste, wie sein Arzt schon sagte. Und: «Sonntags fährt kein Bus vom Bifang an den Bahnhof», sagt Jacky – und zum ersten Mal nervt er sich ein wenig.

Jacky Sauter. Geboren 1933. Eine lebende Legende in Wohlen. Er ist 86 Jahre alt. Was sagt er über sein Leben? «Meine Frau, mein Sohn, der Fussball. Ich hätte es mir nicht anders erträumen können.» Dann kommt das Thema wieder auf. Das Ding mit dem Sterben. Er meint, er habe ja einen gesunden Lebenswandel gehabt. Früher habe er Menthol-Zigaretten geraucht, «doch ich habe den Rauch nur ganz kurz in die Lunge gezogen». Alkohol gab es nicht sehr oft. Ein Geheimnis, wie man mit 86 Jahren aber noch so fit im Kopf ist wie er, hat er nicht. «Schön sterben geht sowieso nicht.» In einem Aufenthaltsraum im Bifang sitzt er da – und überlegt. «Was kommt nach dem Tod?», wird er gefragt. Pragmatisch, wie er ist, antwortet er: «Weiss nicht. Nichts.» Falsche Antwort. Denn von ihm und seiner besonderen Art wird enorm viel übrig bleiben. Jacky Sauter ist unsterblich.