Friedensbaum. Dienstag. 14.01 Uhr. Kaspar Burkart – von allen Chabi genannt – sitzt auf einer Bank. Die Laufschuhe silbern. Die Laufhosen eng. Das rote LR-Wohlen-Trikot vermutlich jahrzehntealt. Als er mich sieht, steht er auf und geht ein paar Meter weiter Richtung Wald. «Hier ist der Start», sagt er. Dann wartet er einige Augenblicke und rennt plötzlich los. So als wäre ein imaginärer Startschuss ertönt: «Los!» Ein erstes Mal sehe ich Chabi von hinten. Sein Tempo ist gemütlich. In meiner Wahrnehmung. Für einen, der 50 Jahre jünger ist. Für einen 80-Jährigen ist schon alleine der Fakt, dass er noch schmerzfrei rennen kann, etwas Besonderes. Ich frage Chabi, wie oft er diese Strecke schon gerannt ist. «Da fragst du mich etwas. Keine Ahnung. Eine Million Mal vielleicht.» Er muss lachen. Ich auch.
«Hopp Chabi, hopp»
Wir treffen unterwegs ein verliebtes Paar auf einer Bank. «Hoi zäme.» Chabi kennt es. Sie kennen ihn. «Hopp Chabi, hopp», ruft das Paar zurück. 30 Meter weiter vorne ein italienisches Ehepaar. Hand in Hand. Chabi kennt es. Die beiden kennen ihn. «Hopp Schwiiz», sagt die Frau lachend. Es geht vorbei an der Fröschenteich-Hütte. Links die BDB-Bahnstrecke, rechts das Gelände, wo das «Touch the Air»-Festival stattfand. Wir unterhalten uns. Beide sind nicht annähernd ausser Atem. Beim Bahnübergang der BDB-Bahn biegen wir rechts ab. Es geht leicht bergauf. Chabi schnaubt. «Hier muss ich wie ein Affe pumpen.» Er ist am steilsten Stück der 3,2 km langen Pfingstlaufstrecke. «Ganz kleine Schritte machen, dann gehts.» Ich habe keine Mühe mit der Steigung. Wie aber schon erwähnt liegen zwischen mir und ihm 50 Jahre Unterschied. 50 Jahre. So lange gibt es den Wohler Pfingstlauf schon. Kaspar Burkart hat ihn gegründet. 1967 gemeinsam mit Hans Steimen. Waldlauf – so hiess der Pfingstlauf die ersten fünf Jahre. Die Murianer haben dann einen Osterlauf veranstaltet. Chabi sagte sich: «Dann machen wir einen Pfingstlauf.» Beim ersten Lauf sind 200 Läufer dabei. Beim Jubiläum 1991 sind es 1500. Rekord. Die letzten Jahre versammeln sich jeweils rund 1000 Laufbegeisterte am Wohler Friedensbaum, um den Pfingstlauf zu bestreiten. 2016 feiert der Pfingstlauf sein 50-Jahr-Jubiläum. «Zum Abschluss renne ich auch noch mal», sagt er. Nicht die grosse Runde über 10 km. Dafür reicht die Kraft nicht. «Nur» die 3,2-km-Kurzstrecke. Er wird dabei das Trikot von 1967 tragen. Zwei seiner fünf Kinder werden ihn beim Jubiläumslauf begleiten. Seit Jahren habe er nicht mehr mitgemacht. Nur noch an den Vereinsläufen rennt er. «Ich bin nicht mehr der Jüngste», lacht er.
Der kleine weisse Zettel
Wir haben den 100-Meter-Anstieg überstanden, rennen Richtung Wohler Oberdorf. Chabi atmet geräuschvoll durch die Nase. «Zur Info: Jetzt kann ich nicht mehr die ganze Zeit reden», sagt er etwas langatmig. Wir biegen rechts ab. Es geht auf die letzten 300 Meter. Die Zielgerade. Hier habe er früher alles aus sich herausgeholt und sei voll gespurtet. Ich muss in diesem Moment an das kleine weisse Zettelchen denken, das sich in meiner Jacke befindet. Chabi hat es mir vor dem Start in die Hand gedrückt. Kommentarlos. Darauf stehen seine Erfolge. «1358 Läufe. 306 Podestplätze. 72-mal 1. Rang.» Auf der Rückseite hat er – in schöner Schrift – seine Meisterschaftsmedaillen aufgeführt. Fünfmal wurde er Schweizer Meister. An Aargauer und Schweizer Meisterschaften erlief er total 35 Medaillen.
Angefahren auf dem Velo – Die Geburt einer Lauflegende
Am Dienstagmorgen vor unserem Lauftreff kommt Chabi vorbei. Zwei-, dreimal pro Woche besucht er mich auf der Redaktion. Er begrüsst alle auf der Redaktion persönlich, per Handschlag. Immer inklusive: ein Lachen und ein spitzbübischer Spruch. Er bringt seit 50 Jahren die Laufberichte der Läuferriege Wohlen vorbei. Mit der Schreibmaschine abgetippt. Der Start in den Text ist immer gleich: Er beschreibt das Wetter – und dann zählt er die Erfolge der einzelnen Läufer auf. Wir gehen raus an die frische Luft. Die Sonne scheint. Wir sitzen auf der Treppe des Kasi-Gebäudes. Chabi erzählt mir aus seinem Leben. Aus seinem unglaublichen Leben. Geboren wurde Kaspar Burkart 1935 in Bern. Sein Vater war Metzger. Die Familie ging ins Wallis. 1939 zügelten die Burkarts nach Wohlen. Die Tante lebte hier und arbeitete in der Wohler Strohindustrie. Genau wie seine Eltern danach jahrelang dort arbeiten werden. Kaspar Burkart wird sein Arbeitsleben in der Spedition verbringen. Unter anderem 32 Jahre bei der Camille Bauer. Er bleibt immer in Wohlen wohnhaft. Sportlich sei er schon immer gewesen. Angefangen hat er bein Velo-Club Wohlen. Beim Büelisacker sei er von einem Auto angefahren worden. «Das Velo war kaputt und ich hatte kein Geld für ein neues», sagt er. So war der Weg frei für das Laufen. Ein Kamerad der Rekrutenschule nahm in 1956 dann erstmals an einen Waffenlauf mit. Es ist die Geburt der Wohler Lauflegende.
Von Höhepunkten und heftigen Schicksalsschlägen
«Was waren deine Höhepunkte?», frage ich ihn. Den Murtenlauf habe er 33-mal gemacht – nie schaffte er es unter einer Stunde. 1967 war es aber so weit und er kam nach 59 Minuten ins Ziel. «Ein grandioses Gefühl.» Seine beste Zeit: 33.59 für 10 000 Meter auf der Bahn. «Die Zeit meines Lebens», sagt er. Beim ersten Pfingstlauf wurde er Zweiter bei den Senioren. Auch etwas, was er aufzählt. Sowieso: Der Pfingstlauf ist sein Baby. Darüber könnte er stundenlang reden. Auf der Treppe vor dem Kasi-Gebäude kommen während einer Stunde sechs Leute vorbei. Alle kennen Chabi. Alle fragen, wie es ihm geht. Alle sprechen ihn auf den Pfingstlauf an. Man spürt: Chabi ist stolz. Er sagt selbst: «Die Läuferriege, der Pfingstlauf. Das ist mein Lebenswerk.» In der Blütezeit hatte die LR Wohlen 300 Mitglieder. Heute sind es 200. Chabi hat alles fein säuberlich dokumentiert, alle Berichte und Fotos in Ordner abgelegt. Nur etwas sei in seinem Leben besser gewesen als das Laufen. Seine Frau und die Kinder. Seit 51 Jahren ist er mit Paulette verheiratet. Er machte vor ihr eine Scheidung durch. «Das war wohl die grösste Enttäuschung in meinem Leben.» Die beiden gemeinsamen Kinder mit der ersten Frau blieben bei ihm. Auch Paulette brachte ein eigenes Kind in die Beziehung. Selber wurden sie dreifache Eltern von Peter, Corinne und Patrick. Eine wahre «Patchwork»-Familie. «Patchwork, was ist das?», fragt Chabi. 1984 sei das schlimmste Jahr seines Lebens gewesen. Sein Sohn beging Selbstmord. Es gab keinerlei Anzeichen dafür. «Ich weiss bis heute nicht, wieso er das tat. Das machte mich lange Zeit fertig.» Es ist das erste Mal, dass ich Chabis traurigen Gesichtsausdruck zu sehen kriege. Dass er zweimal Krebs hatte und ihn besiegte, das erwähnt er nicht einmal.
Unglaublich: Chabi spurtet
Ich frage ihn, wie es ist, alt zu werden. «Nicht lustig», sagt er und lacht dabei. «Man muss das Leben vorneweg nehmen und jeden Tag gerne aufstehen. Es braucht Bewegung», sagt Chabi, der Briefmarken und Münzen sammelt. Übrigens: Der Spitzname Chabi ist «einfach so» entstanden. Irgendwann habe ihm jemand aus der Läuferriege so gesagt. Der Name ist bis heute geblieben. «Kaspar sagt mir niemand mehr.»
Chabi und ich sind kurz vor dem Ziel des Pfingstlaufs. Zehn Meter vor der Ziellinie drückt er aufs Tempo. Ein Spurt. Er hängt mich ab. Ich staune. Insgeheim glaube ich, er will einfach vor mir durchs Ziel und den «Sieg» feiern. Ich sehe Chabi wieder von hinten. «Bis zum Schluss durchziehen. Nicht vorher aufhören», sagt er. Auf der Bank, wo er zu Beginn sass, sind nun zwei Jugendliche. Es sind Bünzmatt- Schüler, die mit der ganzen Klasse für den Pfingstlauf trainieren. Einer liegt quer auf der Bank, ringt um Luft. Chabi geht zu ihm hin. «Du darfst dich nicht hinlegen. Du musst dich bewegen.» Chabi, der 80-jährige Mann, hilft dem 13-jährigen Buben auf, legt den Arm um ihn und sagt: «Schön langsam atmen.» Ich staune schon wieder.
«Ich will da nicht reinreden»
Chabi und ich machen noch Fotos. «Ein Selfie?», lacht er. Wir reden über die Vorfreude, die er vor dem Jubiläums-Pfingstlauf am 14. Mai hat. «Wenn du noch Fragen hast, dann geh zu LR-Präsident Bienz. Ich will da nicht reinreden», sagt er. Ich verabschiede mich von Chabi. Sekundenlang schüttelt er meine Hand. «Also. Bis bald.» Wir umarmen uns. Während ich zum Auto gehe und losfahre, geht Chabi zu Fuss nach Hause. Als ich auf der Hauptstrasse bin, schaue ich aus dem Fenster, ob ich Chabi nochmals erblicke. Er ist auf der Pfingstlaufstrecke. Sein weisses dichtes Haar weht im Wind. Er läuft nicht, er rennt. «Was für eine Legende», denk ich mir. Ich bin verliebt in den Silberrücken der Laufszene.