Lenzburg, Gleis 1, 17.19 Uhr. Der Zug Richtung Freiamt fährt los. Die meisten Pendler drücken am Handy rum. Facebook, Instagram, Tik Tak Tuk und wie das alles heisst. 17.22 Uhr. Halt in Hendschiken. Eine junge Frau steigt ein und alle im Abteil hören ihre Musik – trotz Kopfhörern. Ein Mann zieht tatsächlich ein Buch aus der Jacke und liest. Würden die Handy-Drücker mal vom Bildschirm abdriften, würden sie ihm ungläubige Blicke zuwerfen.

17.24 Uhr. In Dottikon steigt ein sympathischer Mann mit Hut und Bart ein. Er stellt sich vor die Leute und sagt: «Hoi zäme, mein Name ist Frank Müller, ich spiele gerne Fussball, bin seit zwei Jahren verheiratet mit Janine Müller. Ich arbeite als Sanitär und Heizungsplaner, werde aber bald kündigen, da ich viel zu beschäftigt bin mit meinen Hobbys: Fussballgucken, Biertrinken und Origamibasteln. Ah. Und ich bin seit drei Jahren Vater eines Sohnes namens Philipp.» Er zückt Bilder aus seiner Manteltasche und beginnt diese im Zug herumzuwerfen. «Hier, mein Sohn, wenige Minuten nach der Geburt mit der ausgelaugten Mama. Und hier ein Bild, wie er im Baby-Bettchen liegt. Oh, hier eins aus dem Urlaub am Strand in Rimini. Janine, Philipp, ich.» Er wirft die Bilder den Zugreisenden an den Kopf. Einige im Zug glotzen verduzt die Bilder an, einige lächeln, und ein paar Leute heben den Daumen hoch und signalisieren «gefällt mir».

17.29 Uhr. Wohlen. Die Zugreise endet für den verrückten Frank. Die Fahrt war allerdings nur imaginär, ein ausgedachter Social-Media-Zug, der im Facebook-Land herumtuckert. So wie Frank im Zug, so wäre Facebook im realen Leben – irgendwie. Er präsentiert sein Leben online, allen seinen 823 Freunden. Er teilt seine privaten Erlebnisse, Daten und Bilder mit Menschen, die er nicht oder kaum kennt. Dabei checkt er hinter dem Online-Vorhang nicht, wie nackt er sich eigentlich macht. Frank macht mittlerweile eine Entwöhnungskur von Facebook. Er sagt nach seinem erfolgreichen Entzug: «Facebook ist wie Alkohol. Man ist offener, redet Mist, zeigt wildfremden Menschen sein Leben. Man wird süchtig davon. Und einem gefällt alles, egal wie blöd es ist.» Frank, 33, ist heute clean von Social Media. Aber Alkohol trinkt er nach wie vor, deshalb fährt er auch Zug. Doch heute liest er lieber ein Buch.