Nach einem halben Jahrhundert zügelt er seinen Coiffeur-Salon. Von der Bahnhofstrasse an die Jurastrasse. Der Service bleibt genau gleich aussergewöhnlich. Ein Besuch beim Frisuren-Papst Werner Saxer.

Er steht draussen vor dem Salon und raucht genüsslich eine Zigarette. «Hoi, komm rein», sagt Werner Saxer. Er trägt ein kariertes Hemd, Jeans und gepflegte, dunkle Schuhe. Er erklärt seinen neuen Coiffeur-Salon. Die Räumlichkeiten wurden komplett renoviert. Zuvor war eine Schuhmacherei drin. Sein Sohn Roman, ein gelernter Maler, hat ihm bei der Renovation geholfen. «Ich habe sieben Kilogramm abgenommen während der Umbauphase», erzählt Saxer. «Wegen psychischem Druck», fügt er an. Sein schelmisches Lächeln hinter seinem gestylten Bart verrät, dass dies nur bedingt stimmt. Er witzelt eben gerne.

250 Leute am Eröffnungsapéro

Das Telefon klingelt. «Herrensalon Saxer, grüezi», nimmt er ab. Der 65-Jährige macht dies immer genau gleich, seit fast 50 Jahren. Er notiert sich einen Termin. «Freitag ist gut, 14 Uhr, bis dann, machs gut, bis denn, tschüss, heb der Sorg.» Wie gross seine Stammkundschaft ist, weiss er nicht genau. Seine Kunden kommen aber seit Jahrzehnten zu ihm. Teilweise in zweiter oder dritter Generation. Am Eröffnungsapéro, den er letzten Samstag veranstaltete, kamen 250 Menschen. «Cheibe viel», meint Saxer. Wieso so viele gekommen sind? «Vielleicht, um mir eine Freude zu machen, vielleicht, weil sie Erbarmen mit mir haben.» Und da ist es wieder, das schelmische Lachen hinter seinem Bart.

Mitleid muss man nicht haben. Er wechselte «nur» seinen Standort. Halb so wild, auf Laufkundschaft ist er sowieso nicht wirklich angewiesen. Zu bekannt ist er. Er kann dem neuen Salon an der Jurastrasse 6 viel Gutes abgewinnen. Der Volg, die Post II, der Farbtopf, alles gleich um die Ecke. Und es hat genügend Parkplätze gleich neben dem Geschäft. Wie wichtig dies ist, zeigt sein nächster Kunde. Mittwochnachmittag, 13.45 Uhr. Bruno Meyer kommt mit seinem Rollator in den Salon. Seine Frau Fernanda begleitet ihn. Beide sind froh, können sie gleich nebenan ihr Auto abstellen. Sie müssen nicht – wie zuvor an der Bahnhofstrasse – lange nach einem geeigneten Parkplatz suchen. Meyer hat zwar erst um 14 Uhr seinen Termin, aber Werner Saxer beginnt, sobald der 81-jährige Ur-Wohler auf seinem Stuhl sitzt. «Wie immer?», fragt Saxer. Wie immer. Er beginnt sein haariges Kunstwerk. Kunde Bruno Meyer war schon bei Leo Meier auf dem Coiffeur-Stuhl. Bei Meier fing die Ära Saxer an, das war 1972. Wieso geht Bruno Meyer über ein halbes Jahrhundert zum selben Coiffeur? «Er ist einfach der beste», meint er lachend. Nun verrät das Lachen von Haar-Baron Saxer, dass er mächtig stolz ist.

Werner Saxer

«Er kann gar nicht aufhören»

Von seinem «alten» Salon an der Bahnhofstrasse haben es einige Requisiten auch an den neuen Standort geschafft. Ein uralter Coiffeurstuhl, die Kasse oder ein Bild, das einen jungen Mann zeigt, der gerade frisiert wird. Ebenfalls mitgenommen hat er den Spiegel, mit dem er jeweils nach vollendeter Arbeit dem Kunden die Frisur am Hinterkopf präsentiert. Toni Wertli aus Zufikon betritt den Coiffeur-Salon. Es läuft Ländlermusik. Auch er ist ein Ur-Wohler und ist nur vorbeigekommen, um einen Augenschein vom Lokal zu nehmen. «Sieht gut aus, Werni.» Auch Toni Wertli kommt «seit Ewigkeiten» zu Werner Saxer, um sich die Haare schneiden zu lassen. Der Umgang ist auch mit ihm sehr liebevoll und sympathisch. Saxer kann es eben mit allen gut. Das muss er als Coiffeur auch. Er kenne viele Geheimnisse seiner Kunden, er verrät aber keines. Auch das gehört zu seinem Job.

Trotz Pensionierung macht Saxer weiter. Und weil die Zukunft im Gebäude an der Bahnhofstrasse ungewiss ist, wagt er den Neustart. Für ihn kam es gar nicht infrage, aufzuhören. Die Arbeit mit den Haaren, der Umgang mit den Menschen, die sich vertrauensvoll auf seinen Stuhl setzen, sie ist ihm enorm wichtig. Man kann mit ihm über Gott und die Welt reden. Sein Kunde und Kumpel Toni Wertli meint lachend: «Er kann gar nicht aufhören, er würde zu Hause sowieso nur seiner Frau auf den Wecker gehen.» Natürlich ist auch hier eine Menge Schalk dabei, denn auch seine Frau Myrtha, mit der Saxer schon Jahrzehnte zusammen ist, schätzt ihren Mann, den umgänglichen Coiffeur.

Geheimnisse werden gelüftet

Während Wertli den Salon wieder verlässt, die Frisur des 81-jährigen Meyer auf dem Stuhl aufgefrischt ist und das Telefon erneut klingelt, kommt ein Mann ins Lokal, dessen Auto mit «Canadameier» angeschrieben ist. Er will den Aschenbecher vor dem Lokal montieren. Und es erscheint unglaublich, wie viel auf wenigen Quadratmetern abgehen kann, nur weil hier ein Coiffeur seinen Laden hat. Denn es läuft nur wenige Sekunden später eine Frau durch die Tür. «Ich möchte drei Haarschnitts-Gutscheine für meinen Mann, er hat bald Geburtstag.»

Die Behauptung, dass Saxer, ein gebürtiger Hägglinger, der in Tägerig aufwuchs, 90 Prozent der Wohlerinnen und Wohler kennt, ist vermutlich richtig. Nebst über seine Arbeit ist er auch beim Fussballclub Wohlen ein bekannter Mann. Dazu ist er im Fischer- Verein und im Kegelclub. «Me muess au öppis mache», meint er dazu. Saxer geht gerne auf Kreuzfahrt mit seiner Frau. Oder er geht fischen, beispielsweise in Irland.

«Spinnsch?»

Bevor sich die kleine Reportage (all das ereignete sich innert 45 Minuten) dem Ende zuneigt, müssen noch einige Geheimnisse gelüftet werden. Wo geht Werner Saxer auf die Toilette? In seinem Lokal hat er kein WC. Verkneift er sich das? «Spinnsch?», fragt er lachend. «Ich gehe einfach nebenan, da habe ich den Schlüssel.» Und wie kommt es, dass er mit 65 Jahren noch straffes, dickes Haar hat? Nimmt er Haarwuchsmittel? «Spinnsch?», fragt er wieder. Für seinen «schönen Pelz», wie er seine Haare nennt, hat er ein Erfolgsrezept: «Von Luft trocknen, nicht föhnen.»

Von 1972 bis 2019 war Werner Saxer an der Bahnhofstrasse in Wohlen. Nun ist er an der Jurastrasse 6. Es ist ein heimeliger Laden geblieben, die Stammkundschaft bleibt erhalten. «Ich mache das, solange ich gesund bleibe», sagt er. Er bleibt derselbe tolle Typ und emsiger Coiffeur, wie zuvor. Eigentlich hat sich nicht viel geändert, nur der Ort. Dies spielt aber überhaupt keine Rolle, denn die Menschen kommen nicht wegen des Ladens, sondern wegen ihm.