Ein Sturz auf den Kopf – und dann wurde es dunkel. Stephan Strebel war wochenlang im künstlichen Koma. Als er erwacht, begrüsst ihn Eishockey- Star Nino Niederreiter. Er lernte wieder sprechen und kämpfte sich zurück ins Leben. Es war eine Zeit voller Tragik – und eine besondere Liebesgeschichte.

Es ist der 1. Juli 2016. Ein Freitag. Jenny Burkart ist in ihrem heimeligen Zuhause in Aristau. Sie hat gerade gepackt. Jenny und ihr Freund Stephan wollen über das Wochenende verreisen. Dann klingelt das Telefon. Der Chef ihres Freundes Stephan Strebel ruft an.

«Jenny. Es ist etwas passiert mit Stephan.»
«Was hat er schon wieder angestellt?»
«Er ist vom Dach gefallen.»
«Was hat er gebrochen?»
«Hör zu… Es geht ihm gar nicht gut. Der Helikopter landet gerade. Sie bringen ihn ins Spital.»

Ab jetzt ist alles anders. Stephan Strebel, Zimmermann von Beruf, hat einen Arbeitsunfall, er ist aus vier Meter Höhe vom Dach gefallen, auf den Kopf. Jenny zieht nach dem Telefonat den Vorhang, schaut aus dem Fenster. Von ihrem Haus aus sieht sie den Helikopter, wie er in Rottenschwil abhebt. «Ich konnte es nicht glauben, was da gerade passiert», sagt sie. Stephan Strebel kämpft ums Überleben. Eine Leidenszeit beginnt.

Im «Wave» verliebt

Die gemeinsame Geschichte von Jenny und Stephan beginnt im Jahr 2010 Jenny Burkart, eine bodenständige Frau, sie wohnte damals neben der «Mühle» in Villmergen, sie jobbt nebenbei in der In-Kneipe «Wave» in Muri. Sie ist 21 Jahre jung, blond, gross und immer strahlend. Stephan wurde Stammgast im «Wave». Er stand auf Jenny, und Jenny stand auf Stephan. Sie verliebten sich, reisten sechs Monate durch die USA und zogen zwei Jahre später in ein kleines Traumhaus in Aristau. Auch dem Alltag hielt die Liebe stand. Das Glück war perfekt.

Bei den Strebels «müssen die Frauen etwas hinten anstehen», sagt Jenny heute. Sie meint das nicht ganz ernst. Aber sie erinnert sich an damals, vor dem Unfall, da war Stephan Strebel öfter unterwegs. Und es hatte meist mit dem Ringen zu tun. Trainieren, «eis go zieh», trainieren, kämpfen, «eis go zieh». Stephan Strebel entstammt einer Ringerfamilie in einer Ringerregion, er hatte fast ausschliesslich Ringerfreunde. Sein Bruder ist Pascal Strebel, Olympia-Teilnehmer 2012, ist jener Ringer, der in der NLA-Saison 2018 keinen einzigen Kampf für die RS Freiamt verlor – und regelmässig Schweizer Meister in seiner Kategorie wird. Der ältere Bruder Stephan ist nicht ganz so gut – doch auch er wurde 2005 Schweizer Junioren-Meister im «Greco». Auch er rang in der NLA. Stephan Strebel, er ist beliebt bei der Ringerstaffel Freiamt.

Stephan Strebel

Er konnte nicht mehr sprechen

Juli 2016. Ein Freitag. Mittlerweile ist es Nacht. Wenige Stunden nach dem Unfall. Bruder «Pasci», Mutter Brigitte und Freundin Jenny sind in der Notaufnahme im Zürcher Universitätsspital. Die Situation ist kritisch. Stephan Strebel, damals 30 Jahre alt, wurde ins künstliche Koma versetzt. Schweres Schädel-Hirn-Trauma. In der ersten Nacht musste aufgrund des Drucks auf das Gehirn die Schädeldecke geöffnet werden. Er blieb künstlichen Koma. Tage. Wochen. Für die Angehörigen wurde es mit jedem Tag schlimmer. Stephan schläft. «Es folgten Gespräche mit den Ärzten. Sie sagten, Stephan könnte sterben. Und wenn nicht, dann werde er ein Pflegefall», erzählt seine Ehefrau Jenny.

Der Unfall hat Teile seines Gehirns beschädigt. Lähmungserscheinunge im rechten Arm und im rechten Bein. Fast einen Monat schläft er. Unaushaltbar sei es gewesen. «Ich wusste irgendwann wacht er auf und dann können wir reden.» Er wachte auf. Doch sprechen konnte er nicht mehr. «Ich habe die Worte gesucht und habe sie nie gefunden», erklärt er.

Ende Juli 2016. Stephan Strebel wacht aus dem Koma auf. «Nichts ist da. An nichts kann ich mich erinnern», sagt er. Die Geburtstagsparty seines Grossvaters sei das Letzte, was er noch weiss. Diese Party war ein Woche vor dem Unfall. Das Erste, an was er sich nach dem «grossen Schlaf» erinnern kann, ist Nino Niederreiter. Ein Eishockey-Star, der in der NHL in Nordamerika spielt und mit der Schweizer Nationalmannschaft an der WM 2013 und 2018 die Silbermedaille gewann. Auf einer Reise, die Stephan durch die USA machte, besuchte er Nino Niederreiter, Freund eines Freundes. Und jener Eishockey-Star hörte vom Unfall seine Kumpels – und besuchte Stephan, der aus dem Koma zurückkehrte.

«Aus dem Kopf gepfiffen»

September 2016. Die Schädeldecke wird wieder verschlossen. Im November folgt der grosse Rückschlag. «Es hat mir aus dem Kopf gepfiffen», sagt Strebel. Es gab einen Infekt, Eiter sammelte sich an, durch ein Loch im Schädel pfiff es hörbar für ihn und sein Umfeld, wenn er seinen Kopf bewegte. Bewegung erzeugt Luft, Luft drückt nach aussen – und so wurde ein Pfeifton erzeugt. Eine heftige Zeit findet eine Fortsetzung.

Mai 2017. Der Infekt ist behandelt. Die Schädeldecke wird verschlossen. Der nächste Anlauf. Diesmal klappt es. «Das Material ist wie ein Schwamm, der mit dem Knochen wächst, doch eine Konsistenz hat, so hart wie ein Schädel», erklärt Stephan.

Die Geschichte erzählt das Paar in ihrem Haus in Aristau. Es ist Januar 2019. Im Kamin brennt ein Feuer. Sie haben mittlerweile einen Hund, di Rottweiler-Dame Qara. Jenny streichelt die Schulter ihres Mannes. «So wie er hier sitzt, das ist gemäss den Ärzten ein Wunder.» Immer wieder wurde ihr gesagt, dass Stephan sterben könne, bestenfalls zum Pflegefall werde. Doch heute, heute hat er es geschafft. Er kann wieder sprechen, nach einer Zeit in der Integra Wohlen (wo seine Frau im Personalwesen arbeitet) macht er nun ein Praktikum mit anschliessender Umschulungsmöglichkeit zum Orthopädisten in Nottwil. Er möchte Arm- und Bein-Prothesen bauen. In der Rehaklinik Bellikon habe er viele Menschen mit amputierten Gliedern kennen- und schätzen gelernt. «Auf den Bau will ich nicht zurück. Mir ist wichtig, dass ich anderen Menschen helfen kann», sagt Stephan Strebel. In den Zeiten des Unfalls habe er «unglaubliche Hilfe erlebt». Das will er zurückgeben.

«Du heisst Stephan und ich liebe dich»

Hilfe von den Pflegern, den Ärzten – und vom nahen Umfeld. Allen voran von seiner Jenny Jeden Tag ist sie ins Spital oder in die Rehaklinik nach Bellikon gefahren. «Du heiss Stephan, hattest einen Unfall – und ich liebe dich», hat sie zu Beginn jedes Treffens zu ihm gesagt. Sein Bruder Pascal kauft ihm Hörbücher, wacht jeden Tag über ihn – und leitet die Genesungswünsche der ganzen Ringer- Schweiz weiter. Wochenlang konnte er nicht sprechen. Aber singen, das ging. «Songtexte waren noch in meinem Gedächtnis, doch das half wenig bei der Kommunikation.» Mithilfe von Karten und Bildern lernte er wieder zu reden. Zu Beginn ging es mit kleinen Schritten vorwärts. Die Verknüpfungen passten nicht. Synapsen-Wirrwarr.

Partnerin Jenny ist jeden Tag da. «Und schaute immer erwartungsvoll», wie ihr Man erzählt. Denn während er noch die richtigen Worte sucht, weiss sie schon lange, was er sagen will. Als Erstes kann er seinen eigenen Namen wieder aussprechen. Mithilfe von Logopädie, so sagt er heute, habe er wieder sprechen gelernt. Er fand immer mehr Wörter die Verknüpfungen wurden wieder hergestellt, die Lähmungserscheinungen auf der rechten Körperseite liessen nach. Das Glück kehrte zurück zu Stephan Strebel. Jenny und Stephan heirateten am 11. August. Jetzt heissen sie beide Strebel.

«Ringen, das geht»

Seine Frau Jenny findet nicht genügend Worte, um zu beschreiben, wie froh sie heute ist, dass sie ihren Stephan wieder hat. «Dank seines Ehrgeizes und seiner Verbissenheit hat er es zurückgeschafft ins Leben.» Stephan sei heute sensibler, er setze die Prioritäten anders, er gehe nicht mehr ganz so oft mit den Ringern weg. Weniger «eis zieh», mehr Jenny. Aber Trainieren und Kämpfen, das will er immer noch. Bereits während des Reha-Aufenthaltes haben seine Ringerfreunde dafür gesorgt, dass er wieder in die Ringerhalle nach Aristau konnte.

Allerdings nur als Zuschauer. Später in den Kraftraum. Im Alltag hat er noch Probleme, sich zu konzentrieren. «Ich habe nicht mehr so viel Ausdauer. Ausser im Ringen, da geht es.» Er will zurück in die NLA. In diesem Jahr darf er wieder voll einsteigen ins Training. In der 1. Liga will er kämpfen. Und vielleicht reicht es ihm erneut in die Nationalliga A. «Wir werden sehen», sagt Strebel.

«Blickwinkel verändert»

Stephan Strebel, 32 Jahre alt, heute sprachgewandt und glücklich wie vor dem Unfall. Allerdings lebt er heute viel bewusster. «Der Blickwinkel auf das Leben hat sich verändert», meinen die beiden. Stephan Strebel sagt: «Meine Geschichte soll als Hoffnung dienen für Menschen in schwierigen Situationen. Gebt nicht auf. Schaut positiv nach vorne. Kämpft immer weiter. Und denkt nie an einen schlechten Ausgang.»

Das Feuer im Kamin erlischt langsam. Und Stephan Strebel kann den Menschen, die ihn unterstützt haben, nicht genug danken. Allen voran seiner Jenny. «Sie hat alles für mich gemacht. Alles. Ich kann gar nicht beschreiben, wie froh ich bin, dass es sie gibt.» Für Stephan Strebel ist es wichtig, dass er «allen danken kann, die mir geholfen haben und für mich da waren – besonders auch meiner Familie». Seine Frau Jenny Strebel lehnt sich zurück, verschränkt die Arme und sagt lachend: «Du bisch ebe en Gmögige.»