Die Fassade ist gelb und bräunlich. Sie bröckelt. Graffitis zieren die Wand. Manchmal hängen politisch motivierte Plakate vom Balkon. Die Fensterläden sind rot und schwarz. Es sieht aufgeräumt und gleichzeitig chaotisch aus. Einfach anders. Das Kuzeb löst bei vielen Menschen Unbehagen aus. In diesem Gebäude verkehren Leute, die auch auf der Strasse auffallen. Wegen den punkigen Kleidern, den farbigen Haaren oder der offenen Art. Sie sagen, was sie denken. Hier, bei der alten Kleiderfabrik an der Ecke Zürcher- und Zugerstrasse, gleich neben der Post und dem Schulhaus, steht das Kuzeb. Ein Haus der Andersdenkenden. Seit 1991 ein alternativer Treffpunkt im «Städtli».

Kuzeb

Schlechte Erfahrungen gemacht mit Medien

Der erste Eindruck ist dämmrig. Wie in einem Vampirfilm. Alles ist etwas dunkel im Hauptraum. «Komm rein, setz dich, willst du einen Kaffe?». Silas Roth erhellt den Raum mit seiner positiven Art. Die Treffen mit ihm laufen meist gleich ab. Er ist freundlich, zuvorkommend, ein richtig angenehmer Zeitgeist. Silas Roth, 28 Jahre jung, Dreadlocks auf dem Kopf, ein waschechter Bremgarter. Er sitzt im Aufenthaltsraum des Kuzeb. Es riecht nach abgestandenem Rauch. Durch drei Fenster dringt Licht in den Raum, der voller Sofas, Stühlen und Tischen ist. Die Stimmung ist melancholisch - und doch freundlich. Der Espresso-Kocher pfeift. Die Bremgarten-Dietikon-Bahn fährt einen Meter am Haus vorbei. Der Boden vibriert.

Silas Roth erklärt, was jeden 1. und 3. Dienstag im Monat hier passiert. «Vollversammlung» wird es genannt. Ein paar Dutzend Kuzeb-Mitglieder treffen sich, diskutieren, entscheiden. Das Zusammenleben im Haus wird «basisdemokratisch gestaltet», wie er es beschreibt. Man nimmt sich Zeit für die anstehenden Themen. «Wir streben immer eine Konsensfindung an. Das kann teilweise – je nach Thema – sehr intensiv sein. Dafür entsteht keine Diktatur der Mehrheit. Die Stimme eines jeden Einzelnen wird angehört. Dadurch entsteht viel Verständnis», erklärt Roth.

Nach der Reportage-Anfrage dieser Zeitung wurde entschieden, dass die Geschichte «bewilligt» wird. Silas Roth nimmt sich dem an. Das Kuzeb öffnet die Türen und zeigt, was alles in diesem Haus passiert. Ausnahmsweise. Denn in der Vergangenheit hat man schlechte Erfahrungen gemacht mit den Medien. Tendenziöse Berichterstattungen sind der Grund, wieso man Journalisten nur ungern das Vertrauen schenkt. Tendenziös vielleicht auch deswegen, weil man nicht viel über das Innenleben dieses besonderen Hauses und der Menschen darin weiss. Freiräume wie das Kuzeb und die darin enthaltenen Werte und Strukturen können eine Bereicherung sein für die Gesellschaft. Sie kann auch für mehr Toleranz sorgen.
Frischer Wind weht im Kuzeb. Und dieser zieht beispielweise durch den Garten. Dort wurde in der Corona-Zeit aufgeräumt. Kaputte Gartenstühle entsorgt, Zigarettenstummel eingesammelt, Unkraut gejätet. «Da ist was passiert. Unser Garten sieht genial aus», meint Roth. Nun will man auch mit Vorurteilen aufräumen.

Kuzeb

«Achtung Pilzbefall»

Es gibt viele Räume im Kuzeb. Rund 30. «Ich zeig dir alles, kein Problem». Silas Roth greift sich den Schlüssel. «Man kann hier so vieles machen, der Kreativität sind keine Grenzen gesetzt». Los geht die wilde Tour durch das Kuzeb. Hinter jeder Tür wartet eine Überraschung. Wenn man zum ersten Mal durch die Räumlichkeiten geht, fühlt man sich wie ein Kind auf Entdeckungstour durch eine unbekannte Welt. Silas Roth öffnet die erste Tür «Achtung Pilzbefall». Sein Lachen hallt durch den Raum, wo Ess-Pilze gezüchtet werden. Zwei Mitglieder experimentieren hier mit der Anzucht von Speise-Pilzen. Der Grossteil der Kuzeb-Gänger ernährt sich vegan oder vegetarisch. Oft wird gemeinsam gekocht. Dann eigentlich immer vegan, damit alle davon essen können. Verwendet werden auch essbare Pflanzen, die es im Freiamt zu finden gibt. Oder eben: Selbstgezüchtete Pilze.

Silas Roth öffnet Tür 2: Das Essenslager. Mit Sorgfalt werden die Produkte ausgewählt. Wichtigste Kriterien: Regional, ökologisch und bio. In Behältern gibt es Soya, Dinkel, Haferdrink, Quinoa oder Kokosmilch. Alles zum Einkaufspreis. Wenn man etwas will, muss man es selber abwägen und bezahlen. Finanziell profitiert niemand davon. Im Kuzeb sowieso eine goldene Regel: Niemand verdient etwas. Der Mitgliederbeitrag beträgt 5 Franken. Pro Jahr. Es ist ein Verein, ein nicht-kommerzielles und autonomes Kulturzentrum. Der Gratis-Laden ist der beste Beweis dafür. «Mensch darf nehmen, was Mensch braucht», sagt Roth dazu. «Besitzt du etwas, was du eigentlich nicht mehr brauchst, so kannst du es vorbei bringen und dich daran erfreuen, dass jemand anders diesen Gegenstand brauchen wird und Freude daran hat». So einfach. So solidarisch. So gut. Die Bandbreite der Second-Hand-Sachen ist riesig. Von der Wollmütze zum Radio ist alles vorhanden. Nachhaltigkeit wird grossgeschrieben.

Kuzeb

Der 70-Jährige, der Klarinette spielt

Das Kuzeb ist ein bunter Ort mit riesiger Menschen-Diversität. «Die Grundpfeiler bilden Menschlichkeit, Solidarität, Meinungsfreiheit, Vertrauen, Integration, Vielfalt und Offenheit». So steht es auf der Homepage. Wer denkt, im Kuzeb verkehren nur Punks und Linke, der hat dieses Haus noch nie von innen gesehen.

Asylbewerber dürfen gratis Internet nutzen und kommen so in Kontakt mit Einheimischen, Goa-Liebhaber organisieren Partys selbstständig, Maler dürfen im Atelier arbeiten, Handwerker basteln in der Werkstatt, Veganer holen sich Soja zum Einkaufspreis - und so weiter. Das Kuzeb ist ein Ort, wo Menschen ihre Ideologien ausleben können. Das ist schon seit 30 Jahren so und wird wohl auch immer so bleiben, solange das Kuzeb existiert. Es ist für viele ein Haus, wo man Träume verwirklichen kann.

Vor einem Jahr kam ein 70-Jähriger Mann an eine Vollversammlung. Er stellte sich vor und erzählte von seinem Problem: Der Senior wollte Klarinette spielen. Weil sich seine Nachbarn nervten, durfte er kaum noch üben. Er wollte keinen Streit mit den Nachbarn und suchte nun einen Raum, um seiner Leidenschaft nachzukommen. Und das zu jeder Tages- und Nachtzeit. Das Kuzeb erfüllte ihm diesen Wunsch. Jetzt kann er auch morgens um 3 Uhr Klarinette spielen. «Er hat riesig Freude», erzählt Roth.

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Der schönste Raum

Das Kuzeb hat regelmässig eine Vielzahl an Besuchern. Und momentan gibt es besonders viele junge und engagierte Leute. Silas Roth ist einer davon. Seit 2011 organisiert er und hilft bei anderen Projekten in der ganzen Schweiz mit. Nur schon im Freiamt sind die Kuzeb-Gänger grosser Bestandteil von kulturellen Veranstaltungen. Die Open-Airs «Free for Peace», «Open Eye» oder «Zamba Loca» - überall mischten sie mit. Im Haus selber gibt es im Jahr rund 40 Konzerte, manchmal mit 20 Besuchern, manchmal mit 200. Spass am Leben und an der Musik, auch das ist das Kuzeb.

Es geht weiter mit der Hausbesichtigung. Die Treppen knarren. Überall hängen irgendwelche Sachen. Eine Tür ist mit Mosaik verziert, an der Wand sind unzählige Sprüche zu lesen: «Coole Kids haben kein Vaterland», «Musik war mal eine Scheibe» oder «Uns braucht niemand zu kontrollieren, wir können uns selber organisieren». Silas Roth steht wieder vor einer verschlossenen Tür. «Achtung. Wir kommen in den schönsten Raum im Kuzeb». Die «Läsothek» im oberen Stock der alten Kleidefabrik. Der Raum ist lichtdurchflutet, man sieht direkt auf den Schulhausplatz. In den Regalen stehen Bücher, Magazine, Dossiers zu politischen und gesellschaftlichen Themen. Von A wie Anarchie bis Z wie Zwangsmassnahmen. Roth läuft im Kreis in der «Läsothek». «Ein wundervoller Raum». Er selbst studiert Philosophie, Wirtschaft und Politik, ist gelernter Fachmann Betreuung. Die «Läsothek» ist für ihn ein wichtiger Teil des Kuzeb. «Um eine Meinung zu haben, braucht es zuerst Wissen».

Claudia: «Geistiger Austausch»

Weiter geht die Räumlichkeits-Tour. Der Mehrzweck-Raum stillt den Spieltrieb. Kletterwand, Billardtisch, Badminton-Feld, Boxsack - im rund 100 m2 grossen Raum kann man sich austoben. Nicht jeder Raum ist spannend - aber die meisten haben ihren Zweck. Technikraum, Möbellager, Archiv, Kino, Improvisationstheater, Veloraum, Bandraum. Im Kuzeb gibt es eine Siebdruckerei, einen Raum um Fotos zu entwickeln oder um T-Shirts zu bedrucken. Die Auswahl an Möglichkeiten ist riesig.

Wir sind zurück im Aufenthaltsraum, dem Hauptquartier sozusagen. Dort wo sich das meiste abspielt im Kuzeb. An der Wand hängen Informationen und Bröschuren zu den unterschiedlichsten Themen. Die Stühle sind alle verschieden. Vom Bürostuhl bis hin zum Kneippensessel aus den 50er-Jahren. Die Sofas sind alt und ledrig. Mitten im Raum steht ein «Töggelikasten». Im Aschenbecher sind ausgedrückte Zigaretten. Das vorbeifahrende BDB-Bähnli bringt den Raum zum Zittern. Gleichzeitig klingelt das Telefon. Ein Relikt aus alten Tagen, mit Wählscheibe aus Grossmutters Zeiten. «Kuzeb. Hallo?». Am anderen Ende erkundigt sich Jemand nach einem Vegan-Kochkurs. Silas Roth nimmt mit Freude die Anmeldung entgegen.

Kaum ist der Höhrer aufgehängt, betritt Claudia den Raum. «Hoi zäme». Sie ist 24 Jahre alt, zügelte vor zwei Jahren nach Bremgarten. Durch Zufall fand sie den Weg ins Kuzeb und ist nun fast täglich hier anzutreffen. «Hier sind verschiedene Menschen mit verschiedenen Einstellungen. Hier findet ein geistiger Austausch statt». Claudia nutzt die Räumlichkeiten für ihre künstlerische Ader. Sie kreiert im Nähatelier Kleider und versucht sich in der Holzschnitzerei. «Zu Hause hätte ich diese Möglichkeiten nicht», sagt sie. Sie will nicht mehr weg aus Bremgarten. Der Grund ist das Kuzeb und die Menschen hier.

Kuzeb

Der besondere Jan

Silas Roth sitzt daneben und muss nach dieser Aussage nachdenklich lachen. Ihm ist es ähnlich ergangen. Als er in Bremgarten zur Schule ging, sei ihm dieses Haus «skurill» vorgekommen. Bekannt als Punk-Schuppen. «Ich hatte einen fremden, rauchigen Eindruck. Die Leute, die ins Kuzeb gingen, fielen mir auf der Strasse auf». Fremd und doch vertraut. Jetzt ist er seit zehn Jahren selber einer davon. Denn mit seinen hüftlangen Dreadlocks fällt er sofort auf. «Wir tanzen eben ein bisschen aus der Reihe». Er sei ein Mensch, der das Leben auskostet. Er unterscheidet sich nicht viel von anderen jungen Männern in seinem Alter. Dann sagt Roth aber Sätze wie: «Mein Ziel ist es nicht, in meinem Leben möglichst viel Geld zu verdienen. Ich setze meine Energie lieber dafür ein, einen kleinen Teil zum gesellschaftlichen Wandel beizusteuern.» Immer präsent im Kuzeb: Der Gedanke an eine nachhaltige und bessere Zukunft. «Im Kuzeb macht sich jeder Gedanken um seine Umwelt, um seine Mitmenschen, man sucht nach Alternativen, versucht möglichst Klimaneutral zu leben», erklärt Roth. Das spürt man und das sieht man im Kuzeb – wo beispielweise die Handys mit Solarstrom aufgeladen werden können. Modern und doch Alternativ. Aber: Andersdenkende haben in der Gesellschaft einen schweren Stand, das war schon immer so. Irgendwie. Leider.

Ein Andersdenkender ist auch Jan. Er ist in der Werkstatt. Auch er ist ein Mensch der Marke «Tüftler». Jan ist wortgewandt, 42 Jahre alt – und fand durch Kumpels ins Kuzeb. Neben ihm ist ein Plakat mit der Aufschrift: «Die Hoffnung stirbt zuletzt, aber sie stirbt». Man sieht: Er ist ein begabter Handwerker. Jan schätzt die Menschen hier. An Partys geht er weniger. «Weil ich Nichtraucher bin und ich den Rauch nicht ertrage, ist es schwierig». Jan «schuftet» Teilzeit auf dem Bau. «Ich helfe mit, dass die Immobilienblase noch grösser wird», sagt er lachend. Die Philosophiestunde mit Jan beginnt. «Leute kaufen sich Häuser, die sie sich nicht leisten können. In ihre Garagen stellen sie Autos rein, die sie ebenfalls nur auf Pump kriegen. Sie arbeiten dafür 12 Stunden am Tag und nennen das Glück. Ich sehe das anders. Je weniger ich für Geld arbeite, desto mehr kann ich mich verwirklichen». Arbeiten und Geld verdienen unterscheidet er. «Geld verdiene ich nur so viel wie nötig», meint er. Die Wegwerfgesellschaft oder Pauschaltouristen mag er nicht. Jan macht lieber Ferien mit dem Fahrrad. «Besser für die Umwelt. Schöner für mich». Er hat in einem Sack Wildsalat gesammelt im Bremgarter Wald. «Nahes kann so gut sein».

Hippies, Punks, Nerds

Rückblick in die Anfangsjahre des Kuzeb. In den 90er-Jahren entwickelt sich eine linksalternative, multikulturelle Strassenkultur in Bremgarten. Später gab es Auseinandersetzungen mit der rechtsextremen Szene. Die Gewalt in der Stadt nimmt zu. Der Stadtrat liess die Strassen von Bremgarten von Securitas überwachen und setzte die Polizeistunde wieder konsequent durch. Alte Geschichten sind das, längst vorbei. Die Auseinandersetzungen und Schlägereien mit Rechten Gruppen sind heute nicht mehr vorhanden. Und Leute, die im Kuzeb harte Drogen konsumieren und sich homophob, rassistisch oder frauenfeindlich äussern, werden rausgeworfen.

Das Kuzeb ist ein Ort, der nur schwierig mit Worten zu beschreiben ist. Musik, Kultur, Kunst, Gesellschaft, Politik. Die Vielseitigkeit ist gross. Das Kuzeb schenkt nicht nur den besten Glühwein am Christkindlimärt aus. Und es ist keine zu Hause von vermummten Links-Terroristen. Es ist ein friedliebender Ort von andersdenkenden und alternativen Menschen. Hippies, Punks, Nerds, Analytiker. Die Bandbreite ist gross. Doch jeder im Kuzeb hinterfragt die Gesellschaft - und will sie auch ein wenig besser machen. Hier repariert man die Alltagsgegenstände lieber als sie wegzuwerfen und neu zu kaufen. Man hört Punkmusik, Goa oder Techno. Wichtigster Bestandteil ist das friedliche Miteinander, der Respekt. Diskriminierung hat in keinem der über 30 Räume einen Platz. Von den vielen Kuzeb-Gängern, die bei dieser Reportage angetroffen wurden, waren alle zurückhaltend und freundlich. Von aussen kann man nicht beurteilen, wie dieser Ort und die Menschen darin ticken. Der Ort versprüht viel Lebensfreude, viel Farbe, das Kuzeb kann kein Schandfleck sein. «Ansichten können sich wandeln», sagt Silas Roth. Er zückt sein Handy und zeigt ein Bild von Renovationsarbeiten am Haus. Die Fassade wurde teilweise renoviert und bröckelt nicht mehr. Dafür bröckeln vielleicht ein wenig die Vorurteile gegenüber dem Kuzeb.