Eine Szene. Ein Pfiff. Ein Urteil. Das Tessiner Derby zwischen Bellinzona und Chiasso entscheidet Schiedsrichter Sascha Amhof. Und das in letzter Minute. Der Schiedsrichter wird daraufhin attackiert. Was diesen ins Grübeln bringt.

«Der Schiedsrichter ist ein arrogantes Arschloch.» Chiasso-Trainer Livio Bordoli ist nach der 0:1-Niederlage gegen Bellinzona verärgert. Das einzige Tor des Spiels ist in der Nachspielzeit gefallen, nach einem umstrittenen Elfmeter-Entscheid. Dazu hat es Rot gegeben für Chiasso. «Die Leistung des Schiedsrichters war während dem ganzen Spiel schlecht», tritt Bordoli nach. Der Schiedsrichter ist der Buhmann.

«Ich bin Schiri, ihr spielt»

Gut 90 Minuten zuvor: Schiedsrichter Sascha Amhof steht im Stadio Communale vor 2000 Fans. Die 22 Spieler auf dem Feld sind bereit. Ein Pfiff. «Allez. Fangen wir an», sagt Amhof über das Kommunikationssystem. Die beiden Linienrichter und der vierte Offizielle hören mit. Und der Journalist.
Amhof ist sofort gefordert. Nach 10 Sekunden das erste Foul. Und die erste Reklamation. «Hey, Schiri, Biiiitteeeeee». Amhof bleibt cool. «Ich bin Schiri. Ihr spielt. Keine Spielchen. Klar?» In der Matchvorbereitung hat er mehrmals angedeutet, dass er sich nicht auf Provokationen im Derby einlassen will. Diskussionen duldet er nicht.
Zehn Minuten sind gespielt. Ein hartes Foul an einem Chiasso-Spieler direkt vor der Trainerbank. Amhof zückt sofort Gelb. Der verwarnte Spieler reklamiert. «Willst du unter die Dusche?» fragt Amhof. Der Fussballer läuft mit gesenktem Haupt davon und sagt kein Wort. «Das war ein ganz klares Foul. Ich weiss nicht, was es zu diskutieren gibt», sagt Amhof via Funk. Alle vom Team bestätigen. «Ja.» «Ja.» «Ja.»

«Den Pass hätte ich noch besser gespielt»

Schiedsrichter zu sein wird immer schwieriger. Vier Super League-Schiedsrichter gaben genug. Daniel Wermelinger, Cyril Zimmermann, Damien Carell und Ludovic Gremaud treten per Ende Saison zurück. Grund: Mangelnder Respekt in den Medien, keine Wertschätzung, Pöbeleien von Spielern und Fans, schlechte Entlöhnung. Immer weniger Menschen haben deshalb Lust Schiedsrichter zu werden. Amhof und sein Team beweisen, dass es ein harter Job ist, aber durchaus Spass machen kann. Auf dem Feld wird gewitzelt. Wie eine Szene in der 21. Minute beweist. Ein Bellinzona-Spieler kickt den Ball ins Nirgendwo. «Was für ein Scheiss-Pass. Unglaublich schlecht», sagt Amhof. Der vierte Offizielle, Roland Huwiler, meldet sich zu Wort: «Den hätte ich noch besser gespielt.» Alle lachen.

Der Berner Zürcher

Amhof und seine drei Assistenten sind sehr verschieden. Da wäre Linienrichter Marco Zürcher. Er ist klein, etwas schmächtig. Ein aufgestellter Typ, der grossen Wert auf sein Äusseres legt. Zürcher startete seine Schiedsrichter-Karriere vor 10 Jahren. «Es hat sich so ergeben», sagt der 26-Jährige. Zürcher lebt in Bern, ist Student und arbeitet Teilzeit als Sekundarschul-Lehrer.

Der Stolz des Vaters

Der zweite Linienrichter ist Isaam Hamrouni. Grossgewachsen, kaffebraune Haut. 32 Jahre alt. Ein ruhiger, schlanker Mann, der gerne lächelt. Vor 13 Jahren pfiff der Westschweizer sein erstes Junioren-Spiel. «Fussball ist eine Passion. Ich will ein Teil davon sein.» Ausserdem war Hamrounis Vater 25 Jahre lang Schiedsrichter. Oft sei sein Vater bei seinen Spielen. Er positioniert sich am Spielfeldrand immer dort, wo er seinen Sohn am besten beobachten kann. «Er ist unheimlich stolz», sagt Hamrouni, von Beruf Elektroniker.

Der lustige Blitzableiter

Der dritte Assistent ist Roland Huwiler. Er ist klein, quirlig und hat immer einen guten Spruch auf den Lippen. Er pfeift seit 17 Jahren. Der 34-Jährige ist sonst Hauptschiedsrichter bei Challenge-League-Spielen. Aber: Diesmal ist er «nur» der vierte Offizielle. «Der Blitzableiter», wie er es nennt. Es sei wichtig, die «Inputs» von aussen abzufedern. Bei seinem Job auf der Bank (Kredit- und Anlageberatung) hat er es ruhiger.

«Dem Verdienst stehen die Beleidigungen gegenüber»

Sascha Amhof, 32, aus dem Kanton Aargau. Er darf seit einem eineinhalb Jahren in der höchsten Schweizer Liga (Super League) pfeifen. Vor 15 Jahren begann er bei den C-Junioren. Er arbeitete sich nach oben. Ende Dezember 2012 wurde er von der FIFA als internationaler Schiedsrichter genehmigt. Amhof ist ein «Schiedsrichter aus Leidenschaft. Es ist eine Lebensschule und gibt mir enorm viel.» Er vergleicht den Fussballplatz mit dem Leben in Sherwood Forest. Dort, wo Robin Hood den Reichen das Geld stiehlt und es den Armen gibt. Der Märchenheld macht sich dadurch Freunde und Feinde. Wie ein Schiedsrichter.
Amhof liebt den Fussball. Die Macht die er auf dem Feld hat, ist ihm nicht wichtig. «Ich bin Schiedsrichter, weil es mir Spass macht, ein Teil des Profifussballs zu sein», sagt Amhof. Es ist auch ein guter Nebenverdient. Bei Super League-Spielen verdient er 1150 Franken brutto. An Wochentagspielen sind es 1650 Franken. In der Challenge League sind es 770 Franken (Wochentag), und 600 Franken am Wochenende. Die Linienrichter kassieren etwa die Hälfte. «Dem Verdienst stehen der zeitliche Aufwand am Spieltag, die Beleidigungen und auch Ausgaben gegenüber», sagt Amhof. Zum Beispiel für Trainingskleidung oder Abonnement für das Fitness-Studio. Auch der zeitliche Aufwand um zu trainieren ist nicht zu unterschätzen. «Im Idealfall trainiere ich sechs Mal in der Woche», sagt Amhof.

Schiedsrichter sind schlechte Fussballer

Um den Job als Schiedsrichter ausüben zu können, braucht Amhof grossen Rückhalt. Seine Freundin ist ebenfalls Schiedsrichter (in der 2. Liga interregional) und hat daher viel Verständnis. Und bei seiner Arbeit als Sektionsleiter im Departement für Bau, Verkehr und Umwelt des Kantons Aargau kann er auch auf Unterstützung zählen. Wenn er mal wieder frei haben muss, um unter der Woche ein Spiel zu leiten oder an einem der obligatorischen Kurse teilzunehmen, kann er seine Arbeitszeit flexibel einteilen und die Arbeit auch mal an einem Samstag oder am Abend erledigen. Vier Menschen. Vier verschiedene Wesen. Doch auf eine Frage geben alle dieselbe Antwort. «Warum wurden Sie Schiedsrichter?» Alle sagen: «Ich war ein schlechter Fussballer.»

«Sascha, kannst du kurz kommen?»

Eine halbe Stunde ist im Tessiner Derby gespielt. Chiasso-Trainer Bordoli reklamiert vehement wegen einer Aktion, die schon einige Minuten her ist. Er faucht wie eine Raubkatze. Linienrichter Zürcher meldet sich per Funk: «Der Trainer hat irgendein Problem.» Der vierte Offizielle bestätigt: «Ja, der ist nervös heute. Sascha, kannst du kurz kommen.» Amhof wartet bis der Ball ins Aus fliegt, sprintet dann zur Trainerbank. «Herr Bordoli. Müssen wir etwas zusammen besprechen?». Bordoli wird zum Schmusetiger. «Nein. Nein.» Amhof lächelt. «Also. Bitte ruhig bleiben.» Als er wegläuft, sagt Amhof: «Jungs, die haben wir im Griff. Das gefällt mir.»
In der 46. Minute ertönt Amhofs Stimme: «4, 3, 2, 1. Fertig.» Ein Pfiff. Die erste Halbzeit ist vorbei. Das Spiel des Zweitplatzierten Bellinzona gegen der Drittletzten Chiasso ist langweilig. Es steht 0:0. Torchancen gab es nur wenige. In der Kabine brauchen die Schiedsrichter die ersten zwei Minuten zum Verschnaufen. Nur Huwiler, der sich nicht bewegen musste, redet. «Geil Jungs. Wir haben alles im Griff.» Dann werden die zwei, drei umstrittenen Szenen des ersten Durchgangs analysiert. Das Quartett ist sich immer einig.

Der Lacher zum Start

Nach 10 Minuten in der Kabine steht Amhof auf. «So, bringen wir das Spiel nach Hause.» Alle klatschen sich ab und schreiten nebeneinander zurück auf den Rasen. Die Linienrichter gehen zur Seitenlinie. Amhof stellt sich an den Mittelkreis. Huwiler positioniert sich zwischen den beiden Trainerbänken. Die Spieler sind alle auf dem Platz. «Bereit?», fragt Amhof per Funk. Hamrouni: «Ja, kann losgehen.» Zürcher: «Ja.» Huwiler: «Also wenn ihr nichts Besseres vorhabt, würde ich langsam wieder anpfeifen. Ich will irgendwann wieder nach Hause.» Ein Pfiff. Die zweite Halbzeit läuft.

«Gopferdammi Pimenta!»

Die ersten fünf Minuten sind fahrig. Dann ein Aufreger. Chiassos Stürmer Luis Filipe Pimenta wird steil angespielt. Bellinzonas Torhüter Swen König stürmt aus seinem Kasten. Der Goalie ist einen Tick vor dem Stürmer am Ball und kann klären. Doch Pimenta versucht einen Penalty zu schinden und lässt sich fallen. «Gopferdammi Pimenta. Das ist einfach nur Scheisse!» sagt Amhof und zückt Gelb. Pimenta trottet davon. Der Torhüter klopft dem Unparteiischen auf den Rücken. «Gut gesehen, Schiri.»
Ohne den 12. Mann geht es nicht. Der Lohn: Beleidigungen und Kritik. Oder sogar Morddrohungen. Wie beim Schweizer Urs Meier, der an der Europameisterschaft 2004 (zu Recht) ein Tor der Engländer annullierte. England schied danach im Penaltyschiessen aus. Und Meier bekam Morddrohungen und stand wochenlang unter Polizeischutz. Er fürchtete um sein Leben. Je tiefer die Liga, desto kleiner die Toleranz. Vor Kurzem wurde bei einem Amateurfussballspiel in Holland ein Linienrichter nach dem Spiel zu Tode geprügelt. Von drei Jugendlichen im Alter zwischen 15 und 16 Jahren. Wegen einer Abseitsentscheidung.

Sascha Amhof

Fussballplatz als Austragungsort sozialer Konflikte

Das Fussballfeld als Spiegelbild der heutigen Gesellschaft, die immer gewaltbereiter ist. Die vier Schiedsrichter sind noch nie körperlich angegangen worden, bestätigen aber, dass Beleidigungen an der Tagesordnung sind. «Wenn die Zuschauer hinter dir dich beleidigen, geht das noch. Wenn aber Bierbecher oder Sonstiges geflogen kommt, ist das krass. Daran gewöhnt man sich nicht», sagt Zürcher. «Die meisten Beleidigungen kriegt man auf dem Platz gar nicht mit. Man ist zu sehr mit dem Spiel beschäftigt», sagt Amhof. Der Fussballplatz dient immer öfters als Austragungsort sozialer Konflikte. Wer sich im wahren Leben ausgegrenzt fühlt, keine Arbeit hat oder die Miete nicht zahlen kann, der trägt seinen Frust mit auf den Platz. Wenn es auch dort nicht wie gewünscht läuft, suchen sich die Spieler einen Schuldigen, um Dampf abzulassen. Und der Schiedsrichter kommt da gerade recht. Denn mit jeder Entscheidung verschafft er dem einen Team einen Vor- und dem anderen einen Nachteil.

«Ich kleine Wurst»

Amhof gewährt beim Spiel von Chiasso gegen Bellinzona einen Einblick in sein Leben als Schiedsrichter. «Am Spieltag wache ich auf und denke als Erstes: Ich kleine Wurst darf diese Partie leiten», sagt Amhof. Er steht um 12.14 Uhr auf dem Perron 5 in Aarau. Er trägt einen schwarzen Anzug mit roter Krawatte, zieht einen Rollkoffer hinter sich her. Seine Haare sind nach hinten frisiert. Sein Gang ist sehr aufrecht, fast ein wenig eitel. Einige Leute schauen ihm nach. «Das ist normal», sagt er.
Amhof steigt in den Zug nach Olten. Dort warten seine beiden Assistenten. Es ist 12.25 Uhr. Amhof begrüsst Marco Zürcher und Isaam Hamrouni. Und sie sprechen sofort über Schiedsrichter-Angelegenheiten. «Das war wieder eine Fussballwoche. Am Montag war ich 4. Offizieller. Am Dienstag hatte ich Kurs. Und jetzt gehts nach Bellinzona», sagt Amhof. Die beiden Assistenten lachen: «Dann kam dein Training zu kurz, was?»
Der Schwatz am Perron endet abrupt. «Der Zug fährt in zwei Minuten los». Das Trio steigt ein. Sie fahren 1. Klasse im Panoramawagen. Ihre Koffer lassen sie im Zwischenabteil. «Das klaut schon niemand», sagt Hamrouni. Auf der Fahrt sprechen sie über Privates, zum Beispiel darüber dass Hamrouni eine unruhige Nacht hinter sich hat, weil seine kleine Tochter in der Nacht schlecht geschlafen hat.
Um 13.44 Uhr hält der Zug in Arth-Goldau. Huwiler stösst zur Truppe. «Hallo Jungs.» Alle vier tragen dieselben Anzüge. Sie wirken wie die «Men in Black». Ein Welscher, ein Aargauer, ein Berner und ein Zürcher. Jeder trinkt etwas anderes. Rivella blau. Powerade. Pfirsich-Ice-Tee. Evian.

Die Besprechung in der 1. Klasse

Eine Viertelstunde bevor der Zug in Bellinzona einfährt, ruft Amhof zu einer kurzen Vorbesprechung. Er spricht das Hinspiel zwischen Chiasso und Bellinzona an. Damals siegte Chiasso in einem hitzigen und intensiven Spiel 3:2. Es gab 11 gelbe und eine rote Karte. «Jungs, unser Ziel heute ist es, das beste Team auf dem Feld zu sein», sagt Amhof. Er schaut allen in die Augen. Er runzelt die Stirn. Seine Stimme wird tiefer. «Wir nutzen unser Kommunaktionssystem. Redet. Wenn ihr bei einer Entscheidung sicher seid, dann zeigt es an, sonst sagt es via Funk. Eins ist aber klar: Ich bin der Chef. Ich entscheide. Noch Fragen?»

Der verrauchte Range Rover

Der Zug fährt in Bellinzona ein. Es ist 15.23 Uhr. Drei Stunden vor Spielbeginn. Die Delegation wird vom Schiedsrichter-Betreuer der AC Bellinzona am Bahnhof abgeholt. Francesco Sortino heisst er, und kommt pünktlich. Sein grüner Range Rover steht bereit. Übertrieben freundlich begrüsst er die Schiedsrichter, nimmt ihnen das Gepäck ab und öffnet die Türen. Im Auto riecht es nach Zigarettenrauch. Die Schiedsrichter rümpfen die Nase. Die Fahrt zum Stadion dauert zwei Minuten.
Dort angekommen setzen sich alle ins Restaurant und trinken gemütlich einen Kaffee. Wieder wird diskutiert. Natürlich über Fussball. Amhof, der fliessend deutsch, französisch, italienisch und englisch spricht, sitzt neben Francesco Sortino und spricht mit ihm über die Situation von Bellinzona. Plötzlich öffnet sich die Tür des Restaurants. Zwei dunkel gekleidete Männer gehen auf Amhof zu und schütteln ihm die Hand. Es sind die Sicherheitsverantwortlichen des Schweizerischen Fussball-Verbandes. Sie diskutieren mit den Schiedsrichtern über Pyros und über das drohende Alkoholverbot in den Stadien.

Der Tick mit dem Schuh

Um 16.30 Uhr geht es ins Stadion um die Ecke. Garderobe beziehen, Taschen verstauen und ab auf den Rasen zur Besichtigung. Das Grün ist eher braun. Es ist Spätherbst und der Rasen ist in schlechtem Zustand. «Das ist normal zu dieser Jahreszeit», sagt Amhof. Zu viert laufen sie über den Rasen. Die Linienrichter kontrollieren die Tornetze. «Das ist so ein richtiger Assistentenjob. Das machen die Jungs gern», sagt Huwiler. Die Linienrichter lächeln gequält, während sie nach Löchern im Netz suchen. Bevor es zurück in die Kabine geht, putzen sich alle vier ihre schwarzen Schuhe. Sie bürsten sich die Schuhe an derselben Stelle, wo es die Fussballer nach dem Spiel tun werden.
In der Garderobe packt Hamrouni eine grosse Tasche aus. Er stellt vier Gatorade, vier Mandarinen, vier Energydrinks und vier Snickers auf den Tisch. «Jungs, bedient euch.» Die AC Bellinzona offeriert Bananen und Sandwiches.
Es klopft an der Tür. Jeweils ein Betreuer jeder Mannschaft will zu Amhof. Sie zeigen das Trikot, in dem gespielt wird. Und bringen die Spielerpässe zur Kontrolle. Amhof ruft sein Team wieder zu einer Besprechung zusammen. Es dauert 10 Minuten. «Unsere acht Augen müssen alles sehen.»
Um 16.55 Uhr sind alle bereit fürs Einlaufen. Ausser Linienrichter Zürcher. Er hat einen Tick. Er will immer als Letzter die Schuhe anziehen. Huwiler weiss das und nützt es aus. Er trägt am rechten Fuss den zugeschnürten Schuh und am linken Fuss die Adilette. «Komm, mach keinen Scheiss», sagt Zürcher. «Los, einlaufen», sagt Amhof und steht auf. Erst jetzt gibt Huwiler nach und zieht sich seinen zweiten Schuh an. Zürcher ist erlöst.

«Ich will gut riechen»

Um Punkt 17 Uhr laufen Schiedsrichter Amhof und seine zwei Linienrichter auf dem Platz ein. Huwiler schwatzt mit den Trainern. Um 17.23 Uhr gehts nochmals zurück in die Kabine. Amhof kontrolliert, ob er alles hat. «Gelbe Karte. Rote Karte. Alles da.» Zürcher steht vor dem Spiegel, richtet die Frisur und schmiert sich Parfüm an den Hals. Hamrouni steht verdutzt daneben. «Wieso machst du das?» fragt er ihn. «Ich will gut riechen.» Hamrouni zieht die Augenbrauen hoch, nimmt seine Fahne und beginnt damit zu winken.
«Jungs. Auf gehts.» Amhof pfeift seine Männer herbei. Sie klatschen sich ab. Das Letzte was Amhof in der Kabine sagt: «Kein Schmuck. Kein Snus.» Schmuck ist nicht erlaubt, Snus ebenfalls nicht. Es ist eine Sportlerdroge und wird offen oder in kleinen Beuteln zwischen Lippen und Zähnen platziert. Nikotin gelangt über die Schleimhäute sofort ins Blut.
Das Trio stellt sich in den Katakomben vor die beiden Mannschaften. Amhof hält den Matchball in der rechten Hand. Ein Pfiff. Alle laufen aufs Feld unter tosendem Applaus der Zuschauer.

«Nicht normal! Bravo Schiri»

Zurück zum Spiel. Es läuft die Schlussphase. Immer noch steht es 0:0. Die Bellinzona-Spieler müssen etwas tun, um den Anschluss an den Leader Aarau nicht zu verlieren. Die Fans werden ungeduldig. Das Spiel hektischer. Amhofs Entscheidungen werden noch mehr als zuvor kommentiert. Der Unparteiische reagiert immer gleich. Mit einem Lächeln und einem «Ja, ja». Beide Teams kämpfen verbissen. «Jungs. Kämpfen. Kämpfen. Kämpfen. Das Spiel geben wir nicht mehr her», sagt Amhof via Funk.
Es läuft die 90. Minute. Bellinzona wirft alles nach vorne. Mit Erfolg. Bellinzonas Alesandro Riedle kann fünf Meter vor dem Strafraum alleine aufs Tor ziehen. Igor Djuric holt ihn ein. Mit seinem Ellbogen drückt er auf Riedles Schulter. Auf der Höhe des Penaltypunkts kommt Riedle zu Fall. Ein Pfiff. Schiedsrichter Amhof zeigt auf den Penaltypunkt. Auf dem Kommunikationssystem ist jetzt einiges los. Man versteht nichts mehr. Die Chiasso-Spieler reklamieren vehement. Auf der Trainerbank sitzt niemand mehr. Man hört Amhof nur immer wieder sagen: «Weg. Weg. Geh weg. Sofort. Weg. Geh weg.»
Einen Spieler ruft er aber zu sich. Den Sündenbock Djuric. Amhof zückt die rote Karte. Djuric muss unter die Dusche. Er reklamiert aber weiter. Seine Mitspieler zerren ihn vom Feld. Am Kabineneingang tritt Djuric mit dem Fuss mehrmals in die Bande und wettert: «Nicht normal! Nicht normal! Bravo Schiri. Das war ein Geschenk.»
Nach drei Minuten hat sich die Lage etwas beruhigt. «Richtiger Entscheid.» Die Linienrichter stützen Amhofs Urteil. Huwiler sagt: «Hab nichts gesehen. Zu weit weg.» Just in diesem Moment verwertet Gianluca D’Angelo den Penalty zum 1:0 fürs Heimteam.

Hakan Yakin: «Sowas zu pfeifen braucht Mut»

Nach zwei Minuten Nachspielzeit zählt Amhof zurück: «10, 9, 8, 7, 6, 5, 4, 3, 2, 1.» Der Schlusspfiff. Die Chiasso-Spieler, der Trainerstaff, die Ersatzspieler, alle stürmen sie auf das Feld und belagern Amhof. Er wird verbal attackiert. «Pezzo di merda» (Mistkerl), und «figlio di puttana» (Hurensohn) schreit ein Spieler. Die Stimmung ist aggressiv. Die Linienrichter stehen zu Amhof, der alles ohne Reaktion über sich ergehen lässt. Bellinzona feiert daneben mit seinen Fans.
Mehrere Securitas-Männer begleiten Amhof in die Kabine. Kurz bevor er dort ankommt, wird er abgefangen. «Schiri! Hey Schiri!» Es ist Bellinzonas verletzter Star Hakan Yakin. «Bist du sicher, dass das ein Elfmeter war?», fragt Yakin. «Ja», antwortet der verschwitzte Amhof. «Sowas zu pfeifen braucht Mut. Das tut nicht jeder Schiri», sagt Yakin und streckt ihm die Hand entgegen.

«Das ist unser Schicksal»

In der Kabine sind alle ausser Atem. Amhof hängt an der Trinkflasche. «Es war ein schwieriges Spiel. Man muss entscheiden. Es war Penalty. So ist das Leben. An einer Szene wird nun die ganze Leistung der Schiris gemessen. Das ist unser Schicksal.» Das kleine Chiasso verliert trotz kämpferischer Leistung gegen das grosse Bellinzona mit 0:1. Wegen dem Penalty in letzter Minute.

«War es wirklich der richtige Entscheid?»

Eine Woche nach dem Spiel sagt Amhof: «Es war ein spezielles Erlebnis. Auch für uns.» Der Aargauer war vor allem überrascht, wie vehement die Tessiner reklamiert haben. Jetzt hat er die TV-Bilder gesehen, allerdings nur aus einer Perspektive. «Ich habe ein paar Tage über diesen Entscheid gegrübelt. Er war nicht falsch. Aber auch nicht zu 100 Prozent richtig», sagt er. Chiasso-Trainer Bordoli sagt eine Woche später immer noch: «Der Schiri ist und bleibt ein arrogantes Arschloch.» Amhof kann über diese Aussage nur lachen, will dazu nichts sagen. Seine Stimme wird ruhig. Selbstzweifel kommen hoch. «War es wirklich der richtige Entscheid? Ich kann es nicht definitiv sagen.»