Eine Szene. Ein Pfiff. Ein Urteil. Das Tessiner Derby zwischen Bellinzona und Chiasso entscheidet Schiedsrichter Sascha Amhof. Und das in letzter Minute. Der Schiedsrichter wird daraufhin attackiert. Was diesen ins Grübeln bringt.
«Der Schiedsrichter ist ein arrogantes Arschloch.» Chiasso-Trainer Livio Bordoli ist nach der 0:1-Niederlage gegen Bellinzona verärgert. Das einzige Tor des Spiels ist in der Nachspielzeit gefallen, nach einem umstrittenen Elfmeter-Entscheid. Dazu hat es Rot gegeben für Chiasso. «Die Leistung des Schiedsrichters war während dem ganzen Spiel schlecht», tritt Bordoli nach. Der Schiedsrichter ist der Buhmann.
«Ich bin Schiri, ihr spielt»
Gut 90 Minuten zuvor: Schiedsrichter Sascha Amhof steht im Stadio
Communale vor 2000 Fans. Die 22 Spieler auf dem Feld sind bereit.
Ein Pfiff. «Allez. Fangen wir an», sagt Amhof über das
Kommunikationssystem. Die beiden Linienrichter und der vierte
Offizielle hören mit. Und der Journalist.
Amhof ist sofort gefordert. Nach 10 Sekunden das erste Foul. Und die
erste Reklamation. «Hey, Schiri, Biiiitteeeeee». Amhof bleibt cool.
«Ich bin Schiri. Ihr spielt. Keine Spielchen. Klar?» In der
Matchvorbereitung hat er mehrmals angedeutet, dass er sich nicht auf
Provokationen im Derby einlassen will. Diskussionen duldet er
nicht.
Zehn Minuten sind gespielt. Ein hartes Foul an einem Chiasso-Spieler
direkt vor der Trainerbank. Amhof zückt sofort Gelb. Der verwarnte
Spieler reklamiert. «Willst du unter die Dusche?» fragt Amhof. Der
Fussballer läuft mit gesenktem Haupt davon und sagt kein Wort. «Das
war ein ganz klares Foul. Ich weiss nicht, was es zu diskutieren
gibt», sagt Amhof via Funk. Alle vom Team bestätigen. «Ja.» «Ja.»
«Ja.»
«Den Pass hätte ich noch besser gespielt»
Schiedsrichter zu sein wird immer schwieriger. Vier Super League-Schiedsrichter gaben genug. Daniel Wermelinger, Cyril Zimmermann, Damien Carell und Ludovic Gremaud treten per Ende Saison zurück. Grund: Mangelnder Respekt in den Medien, keine Wertschätzung, Pöbeleien von Spielern und Fans, schlechte Entlöhnung. Immer weniger Menschen haben deshalb Lust Schiedsrichter zu werden. Amhof und sein Team beweisen, dass es ein harter Job ist, aber durchaus Spass machen kann. Auf dem Feld wird gewitzelt. Wie eine Szene in der 21. Minute beweist. Ein Bellinzona-Spieler kickt den Ball ins Nirgendwo. «Was für ein Scheiss-Pass. Unglaublich schlecht», sagt Amhof. Der vierte Offizielle, Roland Huwiler, meldet sich zu Wort: «Den hätte ich noch besser gespielt.» Alle lachen.
Der Berner Zürcher
Amhof und seine drei Assistenten sind sehr verschieden. Da wäre Linienrichter Marco Zürcher. Er ist klein, etwas schmächtig. Ein aufgestellter Typ, der grossen Wert auf sein Äusseres legt. Zürcher startete seine Schiedsrichter-Karriere vor 10 Jahren. «Es hat sich so ergeben», sagt der 26-Jährige. Zürcher lebt in Bern, ist Student und arbeitet Teilzeit als Sekundarschul-Lehrer.
Der Stolz des Vaters
Der zweite Linienrichter ist Isaam Hamrouni. Grossgewachsen, kaffebraune Haut. 32 Jahre alt. Ein ruhiger, schlanker Mann, der gerne lächelt. Vor 13 Jahren pfiff der Westschweizer sein erstes Junioren-Spiel. «Fussball ist eine Passion. Ich will ein Teil davon sein.» Ausserdem war Hamrounis Vater 25 Jahre lang Schiedsrichter. Oft sei sein Vater bei seinen Spielen. Er positioniert sich am Spielfeldrand immer dort, wo er seinen Sohn am besten beobachten kann. «Er ist unheimlich stolz», sagt Hamrouni, von Beruf Elektroniker.
Der lustige Blitzableiter
Der dritte Assistent ist Roland Huwiler. Er ist klein, quirlig und hat immer einen guten Spruch auf den Lippen. Er pfeift seit 17 Jahren. Der 34-Jährige ist sonst Hauptschiedsrichter bei Challenge-League-Spielen. Aber: Diesmal ist er «nur» der vierte Offizielle. «Der Blitzableiter», wie er es nennt. Es sei wichtig, die «Inputs» von aussen abzufedern. Bei seinem Job auf der Bank (Kredit- und Anlageberatung) hat er es ruhiger.
«Dem Verdienst stehen die Beleidigungen gegenüber»
Sascha Amhof, 32, aus dem Kanton Aargau. Er darf seit einem
eineinhalb Jahren in der höchsten Schweizer Liga (Super League)
pfeifen. Vor 15 Jahren begann er bei den C-Junioren. Er arbeitete
sich nach oben. Ende Dezember 2012 wurde er von der FIFA als
internationaler Schiedsrichter genehmigt. Amhof ist ein
«Schiedsrichter aus Leidenschaft. Es ist eine Lebensschule und gibt
mir enorm viel.» Er vergleicht den Fussballplatz mit dem Leben in
Sherwood Forest. Dort, wo Robin Hood den Reichen das Geld stiehlt
und es den Armen gibt. Der Märchenheld macht sich dadurch Freunde
und Feinde. Wie ein Schiedsrichter.
Amhof liebt den Fussball. Die Macht die er auf dem Feld hat, ist ihm
nicht wichtig. «Ich bin Schiedsrichter, weil es mir Spass macht, ein
Teil des Profifussballs zu sein», sagt Amhof. Es ist auch ein guter
Nebenverdient. Bei Super League-Spielen verdient er 1150 Franken
brutto. An Wochentagspielen sind es 1650 Franken. In der Challenge
League sind es 770 Franken (Wochentag), und 600 Franken am
Wochenende. Die Linienrichter kassieren etwa die Hälfte. «Dem
Verdienst stehen der zeitliche Aufwand am Spieltag, die
Beleidigungen und auch Ausgaben gegenüber», sagt Amhof. Zum Beispiel
für Trainingskleidung oder Abonnement für das Fitness-Studio. Auch
der zeitliche Aufwand um zu trainieren ist nicht zu unterschätzen.
«Im Idealfall trainiere ich sechs Mal in der Woche», sagt Amhof.
Schiedsrichter sind schlechte Fussballer
Um den Job als Schiedsrichter ausüben zu können, braucht Amhof grossen Rückhalt. Seine Freundin ist ebenfalls Schiedsrichter (in der 2. Liga interregional) und hat daher viel Verständnis. Und bei seiner Arbeit als Sektionsleiter im Departement für Bau, Verkehr und Umwelt des Kantons Aargau kann er auch auf Unterstützung zählen. Wenn er mal wieder frei haben muss, um unter der Woche ein Spiel zu leiten oder an einem der obligatorischen Kurse teilzunehmen, kann er seine Arbeitszeit flexibel einteilen und die Arbeit auch mal an einem Samstag oder am Abend erledigen. Vier Menschen. Vier verschiedene Wesen. Doch auf eine Frage geben alle dieselbe Antwort. «Warum wurden Sie Schiedsrichter?» Alle sagen: «Ich war ein schlechter Fussballer.»
«Sascha, kannst du kurz kommen?»
Eine halbe Stunde ist im Tessiner Derby gespielt. Chiasso-Trainer
Bordoli reklamiert vehement wegen einer Aktion, die schon einige
Minuten her ist. Er faucht wie eine Raubkatze. Linienrichter Zürcher
meldet sich per Funk: «Der Trainer hat irgendein Problem.» Der
vierte Offizielle bestätigt: «Ja, der ist nervös heute. Sascha,
kannst du kurz kommen.» Amhof wartet bis der Ball ins Aus fliegt,
sprintet dann zur Trainerbank. «Herr Bordoli. Müssen wir etwas
zusammen besprechen?». Bordoli wird zum Schmusetiger. «Nein. Nein.»
Amhof lächelt. «Also. Bitte ruhig bleiben.» Als er wegläuft, sagt
Amhof: «Jungs, die haben wir im Griff. Das gefällt mir.»
In der 46. Minute ertönt Amhofs Stimme: «4, 3, 2, 1. Fertig.» Ein
Pfiff. Die erste Halbzeit ist vorbei. Das Spiel des Zweitplatzierten
Bellinzona gegen der Drittletzten Chiasso ist langweilig. Es steht
0:0. Torchancen gab es nur wenige. In der Kabine brauchen die
Schiedsrichter die ersten zwei Minuten zum Verschnaufen. Nur
Huwiler, der sich nicht bewegen musste, redet. «Geil Jungs. Wir
haben alles im Griff.» Dann werden die zwei, drei umstrittenen
Szenen des ersten Durchgangs analysiert. Das Quartett ist sich immer
einig.
Der Lacher zum Start
Nach 10 Minuten in der Kabine steht Amhof auf. «So, bringen wir das Spiel nach Hause.» Alle klatschen sich ab und schreiten nebeneinander zurück auf den Rasen. Die Linienrichter gehen zur Seitenlinie. Amhof stellt sich an den Mittelkreis. Huwiler positioniert sich zwischen den beiden Trainerbänken. Die Spieler sind alle auf dem Platz. «Bereit?», fragt Amhof per Funk. Hamrouni: «Ja, kann losgehen.» Zürcher: «Ja.» Huwiler: «Also wenn ihr nichts Besseres vorhabt, würde ich langsam wieder anpfeifen. Ich will irgendwann wieder nach Hause.» Ein Pfiff. Die zweite Halbzeit läuft.
«Gopferdammi Pimenta!»
Die ersten fünf Minuten sind fahrig. Dann ein Aufreger. Chiassos
Stürmer Luis Filipe Pimenta wird steil angespielt. Bellinzonas
Torhüter Swen König stürmt aus seinem Kasten. Der Goalie ist einen
Tick vor dem Stürmer am Ball und kann klären. Doch Pimenta versucht
einen Penalty zu schinden und lässt sich fallen. «Gopferdammi
Pimenta. Das ist einfach nur Scheisse!» sagt Amhof und zückt Gelb.
Pimenta trottet davon. Der Torhüter klopft dem Unparteiischen auf
den Rücken. «Gut gesehen, Schiri.»
Ohne den 12. Mann geht es nicht. Der Lohn: Beleidigungen und Kritik.
Oder sogar Morddrohungen. Wie beim Schweizer Urs Meier, der an der
Europameisterschaft 2004 (zu Recht) ein Tor der Engländer
annullierte. England schied danach im Penaltyschiessen aus. Und
Meier bekam Morddrohungen und stand wochenlang unter Polizeischutz.
Er fürchtete um sein Leben. Je tiefer die Liga, desto kleiner die
Toleranz. Vor Kurzem wurde bei einem Amateurfussballspiel in Holland
ein Linienrichter nach dem Spiel zu Tode geprügelt. Von drei
Jugendlichen im Alter zwischen 15 und 16 Jahren. Wegen einer
Abseitsentscheidung.
Fussballplatz als Austragungsort sozialer Konflikte
Das Fussballfeld als Spiegelbild der heutigen Gesellschaft, die immer gewaltbereiter ist. Die vier Schiedsrichter sind noch nie körperlich angegangen worden, bestätigen aber, dass Beleidigungen an der Tagesordnung sind. «Wenn die Zuschauer hinter dir dich beleidigen, geht das noch. Wenn aber Bierbecher oder Sonstiges geflogen kommt, ist das krass. Daran gewöhnt man sich nicht», sagt Zürcher. «Die meisten Beleidigungen kriegt man auf dem Platz gar nicht mit. Man ist zu sehr mit dem Spiel beschäftigt», sagt Amhof. Der Fussballplatz dient immer öfters als Austragungsort sozialer Konflikte. Wer sich im wahren Leben ausgegrenzt fühlt, keine Arbeit hat oder die Miete nicht zahlen kann, der trägt seinen Frust mit auf den Platz. Wenn es auch dort nicht wie gewünscht läuft, suchen sich die Spieler einen Schuldigen, um Dampf abzulassen. Und der Schiedsrichter kommt da gerade recht. Denn mit jeder Entscheidung verschafft er dem einen Team einen Vor- und dem anderen einen Nachteil.
«Ich kleine Wurst»
Amhof gewährt beim Spiel von Chiasso gegen Bellinzona einen Einblick
in sein Leben als Schiedsrichter. «Am Spieltag wache ich auf und
denke als Erstes: Ich kleine Wurst darf diese Partie leiten», sagt
Amhof. Er steht um 12.14 Uhr auf dem Perron 5 in Aarau. Er trägt
einen schwarzen Anzug mit roter Krawatte, zieht einen Rollkoffer
hinter sich her. Seine Haare sind nach hinten frisiert. Sein Gang
ist sehr aufrecht, fast ein wenig eitel. Einige Leute schauen ihm
nach. «Das ist normal», sagt er.
Amhof steigt in den Zug nach Olten. Dort warten seine beiden
Assistenten. Es ist 12.25 Uhr. Amhof begrüsst Marco Zürcher und
Isaam Hamrouni. Und sie sprechen sofort über
Schiedsrichter-Angelegenheiten. «Das war wieder eine Fussballwoche.
Am Montag war ich 4. Offizieller. Am Dienstag hatte ich Kurs. Und
jetzt gehts nach Bellinzona», sagt Amhof. Die beiden Assistenten
lachen: «Dann kam dein Training zu kurz, was?»
Der Schwatz am Perron endet abrupt. «Der Zug fährt in zwei Minuten
los». Das Trio steigt ein. Sie fahren 1. Klasse im Panoramawagen.
Ihre Koffer lassen sie im Zwischenabteil. «Das klaut schon niemand»,
sagt Hamrouni. Auf der Fahrt sprechen sie über Privates, zum
Beispiel darüber dass Hamrouni eine unruhige Nacht hinter sich hat,
weil seine kleine Tochter in der Nacht schlecht geschlafen hat.
Um 13.44 Uhr hält der Zug in Arth-Goldau. Huwiler stösst zur Truppe.
«Hallo Jungs.» Alle vier tragen dieselben Anzüge. Sie wirken wie die
«Men in Black». Ein Welscher, ein Aargauer, ein Berner und ein
Zürcher. Jeder trinkt etwas anderes. Rivella blau. Powerade.
Pfirsich-Ice-Tee. Evian.
Die Besprechung in der 1. Klasse
Eine Viertelstunde bevor der Zug in Bellinzona einfährt, ruft Amhof zu einer kurzen Vorbesprechung. Er spricht das Hinspiel zwischen Chiasso und Bellinzona an. Damals siegte Chiasso in einem hitzigen und intensiven Spiel 3:2. Es gab 11 gelbe und eine rote Karte. «Jungs, unser Ziel heute ist es, das beste Team auf dem Feld zu sein», sagt Amhof. Er schaut allen in die Augen. Er runzelt die Stirn. Seine Stimme wird tiefer. «Wir nutzen unser Kommunaktionssystem. Redet. Wenn ihr bei einer Entscheidung sicher seid, dann zeigt es an, sonst sagt es via Funk. Eins ist aber klar: Ich bin der Chef. Ich entscheide. Noch Fragen?»
Der verrauchte Range Rover
Der Zug fährt in Bellinzona ein. Es ist 15.23 Uhr. Drei Stunden vor
Spielbeginn. Die Delegation wird vom Schiedsrichter-Betreuer der AC
Bellinzona am Bahnhof abgeholt. Francesco Sortino heisst er, und
kommt pünktlich. Sein grüner Range Rover steht bereit. Übertrieben
freundlich begrüsst er die Schiedsrichter, nimmt ihnen das Gepäck ab
und öffnet die Türen. Im Auto riecht es nach Zigarettenrauch. Die
Schiedsrichter rümpfen die Nase. Die Fahrt zum Stadion dauert zwei
Minuten.
Dort angekommen setzen sich alle ins Restaurant und trinken
gemütlich einen Kaffee. Wieder wird diskutiert. Natürlich über
Fussball. Amhof, der fliessend deutsch, französisch, italienisch und
englisch spricht, sitzt neben Francesco Sortino und spricht mit ihm
über die Situation von Bellinzona. Plötzlich öffnet sich die Tür des
Restaurants. Zwei dunkel gekleidete Männer gehen auf Amhof zu und
schütteln ihm die Hand. Es sind die Sicherheitsverantwortlichen des
Schweizerischen Fussball-Verbandes. Sie diskutieren mit den
Schiedsrichtern über Pyros und über das drohende Alkoholverbot in
den Stadien.
Der Tick mit dem Schuh
Um 16.30 Uhr geht es ins Stadion um die Ecke. Garderobe beziehen,
Taschen verstauen und ab auf den Rasen zur Besichtigung. Das Grün
ist eher braun. Es ist Spätherbst und der Rasen ist in schlechtem
Zustand. «Das ist normal zu dieser Jahreszeit», sagt Amhof. Zu viert
laufen sie über den Rasen. Die Linienrichter kontrollieren die
Tornetze. «Das ist so ein richtiger Assistentenjob. Das machen die
Jungs gern», sagt Huwiler. Die Linienrichter lächeln gequält,
während sie nach Löchern im Netz suchen. Bevor es zurück in die
Kabine geht, putzen sich alle vier ihre schwarzen Schuhe. Sie
bürsten sich die Schuhe an derselben Stelle, wo es die Fussballer
nach dem Spiel tun werden.
In der Garderobe packt Hamrouni eine grosse Tasche aus. Er stellt
vier Gatorade, vier Mandarinen, vier Energydrinks und vier Snickers
auf den Tisch. «Jungs, bedient euch.» Die AC Bellinzona offeriert
Bananen und Sandwiches.
Es klopft an der Tür. Jeweils ein Betreuer jeder Mannschaft will zu
Amhof. Sie zeigen das Trikot, in dem gespielt wird. Und bringen die
Spielerpässe zur Kontrolle. Amhof ruft sein Team wieder zu einer
Besprechung zusammen. Es dauert 10 Minuten. «Unsere acht Augen
müssen alles sehen.»
Um 16.55 Uhr sind alle bereit fürs Einlaufen. Ausser Linienrichter
Zürcher. Er hat einen Tick. Er will immer als Letzter die Schuhe
anziehen. Huwiler weiss das und nützt es aus. Er trägt am rechten
Fuss den zugeschnürten Schuh und am linken Fuss die Adilette. «Komm,
mach keinen Scheiss», sagt Zürcher. «Los, einlaufen», sagt Amhof und
steht auf. Erst jetzt gibt Huwiler nach und zieht sich seinen
zweiten Schuh an. Zürcher ist erlöst.
«Ich will gut riechen»
Um Punkt 17 Uhr laufen Schiedsrichter Amhof und seine zwei
Linienrichter auf dem Platz ein. Huwiler schwatzt mit den Trainern.
Um 17.23 Uhr gehts nochmals zurück in die Kabine. Amhof
kontrolliert, ob er alles hat. «Gelbe Karte. Rote Karte. Alles da.»
Zürcher steht vor dem Spiegel, richtet die Frisur und schmiert sich
Parfüm an den Hals. Hamrouni steht verdutzt daneben. «Wieso machst
du das?» fragt er ihn. «Ich will gut riechen.» Hamrouni zieht die
Augenbrauen hoch, nimmt seine Fahne und beginnt damit zu winken.
«Jungs. Auf gehts.» Amhof pfeift seine Männer herbei. Sie klatschen
sich ab. Das Letzte was Amhof in der Kabine sagt: «Kein Schmuck.
Kein Snus.» Schmuck ist nicht erlaubt, Snus ebenfalls nicht. Es ist
eine Sportlerdroge und wird offen oder in kleinen Beuteln zwischen
Lippen und Zähnen platziert. Nikotin gelangt über die Schleimhäute
sofort ins Blut.
Das Trio stellt sich in den Katakomben vor die beiden Mannschaften.
Amhof hält den Matchball in der rechten Hand. Ein Pfiff. Alle laufen
aufs Feld unter tosendem Applaus der Zuschauer.
«Nicht normal! Bravo Schiri»
Zurück zum Spiel. Es läuft die Schlussphase. Immer noch steht es
0:0. Die Bellinzona-Spieler müssen etwas tun, um den Anschluss an
den Leader Aarau nicht zu verlieren. Die Fans werden ungeduldig. Das
Spiel hektischer. Amhofs Entscheidungen werden noch mehr als zuvor
kommentiert. Der Unparteiische reagiert immer gleich. Mit einem
Lächeln und einem «Ja, ja». Beide Teams kämpfen verbissen. «Jungs.
Kämpfen. Kämpfen. Kämpfen. Das Spiel geben wir nicht mehr her», sagt
Amhof via Funk.
Es läuft die 90. Minute. Bellinzona wirft alles nach vorne. Mit
Erfolg. Bellinzonas Alesandro Riedle kann fünf Meter vor dem
Strafraum alleine aufs Tor ziehen. Igor Djuric holt ihn ein. Mit
seinem Ellbogen drückt er auf Riedles Schulter. Auf der Höhe des
Penaltypunkts kommt Riedle zu Fall. Ein Pfiff. Schiedsrichter Amhof
zeigt auf den Penaltypunkt. Auf dem Kommunikationssystem ist jetzt
einiges los. Man versteht nichts mehr. Die Chiasso-Spieler
reklamieren vehement. Auf der Trainerbank sitzt niemand mehr. Man
hört Amhof nur immer wieder sagen: «Weg. Weg. Geh weg. Sofort. Weg.
Geh weg.»
Einen Spieler ruft er aber zu sich. Den Sündenbock Djuric. Amhof
zückt die rote Karte. Djuric muss unter die Dusche. Er reklamiert
aber weiter. Seine Mitspieler zerren ihn vom Feld. Am Kabineneingang
tritt Djuric mit dem Fuss mehrmals in die Bande und wettert: «Nicht
normal! Nicht normal! Bravo Schiri. Das war ein Geschenk.»
Nach drei Minuten hat sich die Lage etwas beruhigt. «Richtiger
Entscheid.» Die Linienrichter stützen Amhofs Urteil. Huwiler sagt:
«Hab nichts gesehen. Zu weit weg.» Just in diesem Moment verwertet
Gianluca D’Angelo den Penalty zum 1:0 fürs Heimteam.
Hakan Yakin: «Sowas zu pfeifen braucht Mut»
Nach zwei Minuten Nachspielzeit zählt Amhof zurück: «10, 9, 8, 7, 6,
5, 4, 3, 2, 1.» Der Schlusspfiff. Die Chiasso-Spieler, der
Trainerstaff, die Ersatzspieler, alle stürmen sie auf das Feld und
belagern Amhof. Er wird verbal attackiert. «Pezzo di merda»
(Mistkerl), und «figlio di puttana» (Hurensohn) schreit ein Spieler.
Die Stimmung ist aggressiv. Die Linienrichter stehen zu Amhof, der
alles ohne Reaktion über sich ergehen lässt. Bellinzona feiert
daneben mit seinen Fans.
Mehrere Securitas-Männer begleiten Amhof in die Kabine. Kurz bevor
er dort ankommt, wird er abgefangen. «Schiri! Hey Schiri!» Es ist
Bellinzonas verletzter Star Hakan Yakin. «Bist du sicher, dass das
ein Elfmeter war?», fragt Yakin. «Ja», antwortet der verschwitzte
Amhof. «Sowas zu pfeifen braucht Mut. Das tut nicht jeder Schiri»,
sagt Yakin und streckt ihm die Hand entgegen.
«Das ist unser Schicksal»
In der Kabine sind alle ausser Atem. Amhof hängt an der Trinkflasche. «Es war ein schwieriges Spiel. Man muss entscheiden. Es war Penalty. So ist das Leben. An einer Szene wird nun die ganze Leistung der Schiris gemessen. Das ist unser Schicksal.» Das kleine Chiasso verliert trotz kämpferischer Leistung gegen das grosse Bellinzona mit 0:1. Wegen dem Penalty in letzter Minute.
«War es wirklich der richtige Entscheid?»
Eine Woche nach dem Spiel sagt Amhof: «Es war ein spezielles Erlebnis. Auch für uns.» Der Aargauer war vor allem überrascht, wie vehement die Tessiner reklamiert haben. Jetzt hat er die TV-Bilder gesehen, allerdings nur aus einer Perspektive. «Ich habe ein paar Tage über diesen Entscheid gegrübelt. Er war nicht falsch. Aber auch nicht zu 100 Prozent richtig», sagt er. Chiasso-Trainer Bordoli sagt eine Woche später immer noch: «Der Schiri ist und bleibt ein arrogantes Arschloch.» Amhof kann über diese Aussage nur lachen, will dazu nichts sagen. Seine Stimme wird ruhig. Selbstzweifel kommen hoch. «War es wirklich der richtige Entscheid? Ich kann es nicht definitiv sagen.»