Von Bremgarten nach Shaknin. Fussballprofi Alban Pnishi suchte sein Glück bei dem einzigen arabischen Team in Israel. Eine Reise zu hitzigen Arabern, einem besonderen Alltag und einer komplexen Welt.
1000 Männer starren. Von vorne, von links, von rechts. Sogar von
hinten spürt man die Blicke auf dem Hinterkopf. Als Nicht-Araber
gehört man nicht in den Sektor des FC Bnei Shaknin. Kritische Blicke
aus regungslosen Gesichtern. Im HaMoshava-Stadion, eine halbe
Stunde von Tel Aviv entfernt, ist vieles anders als in den
Fussballstadien Europas.
Es gibt kein Bier, dafür Popcorn. Es gibt keine Würste, dafür Hotdog
mit sauerkrautähnlichem Salat. Männer und Frauen benutzen dieselbe
Toilette. Frauen sind eine Rarität.
Anpfiff im Spiel zwischen Bne Jehuda und Bnei Shaknin. Die Blicke
gehen hoffnungsvoll nach oben, Allah wird beschworen. Fliegt ein
Ball auf die Zuschauerränge, wird dieser geküsst, mit Gebeten
aufgeladen und zurück auf das Spielfeld geworfen.
Alban Pnishi spielt beim FC Bnei Shaknin. Er ist 28 Jahre alt,
geboren im Kosovo, aufgewachsen in Bremgarten im Freiamt. Das
Fussballspielen lernte er beim FC Wohlen, wurde Captain in der
«Sforza-Saison», als man vom Aufstieg in die Super League träumte.
Danach öffnete sich die Tür zu ganz oben: Er unterschrieb bei den
Grasshoppers Zürich, machte sieben Länderspiele für den Kosovo – und
wird dort verehrt wie ein Fussballgott.
Im Mittelpunkt steht er ungern. Er fährt einen Opel Corsa, trägt
schwarze Vans-Schuhe, unauffällige blaue Jeans und ein weisses
T-Shirt ohne Markenbezeichnung. Alban Pnishi ist überlegt, ein
fleissiger Arbeiter. Er weiss, welches Privileg er als
Profifussballer hat. Deshalb nutzte er die Chance und ging nach
Israel. Es ist ein Abenteuer, eine Herausforderung. Oder «eine
Lebensschule», wie er es nennt.
Selfies bevor er aus dem Stadion geworfen wird
25. Minute. Alban Pnishi steht auf dem englischen Rasen im
HaMoshava-Stadion in Petah Tikva. 2500 Zuschauer sind gekommen. Ein
hervorragender Angriff von Shaknin. 1:0. Die Führung – und das gegen
den Tabellenzweiten Jehuda. Die Araber auf der Tribüne jubeln,
schreien «Yalla, yalla» und umarmen sich. Die Spieler feiern mit den
Anhängern.
«Die Fans sind treu, heissblütig – und viele haben einen positiven
Knall», sagt Alban Pnishi. Er sitzt einen Tag nach dem Spiel in
seiner 3,5-Zimmer-Wohnung in der Stadt Karmiel. Im Wohnzimmer stehen
nur drei Dinge. Ein rotes Sofa, ein weisser Ikea-Tisch und ein
Fernseher. Es sieht so aus, als ob hier jemand gestern erst
eingezogen ist – oder morgen auszieht. «Wir haben alles, was wir zum
Leben brauchen. Der Lebensstandard ist aber nicht zu vergleichen mit
dem in der Schweiz», meint Pnishi und öffnet die Tür zum Bunker.
Jede Wohnung in Israel hat solch einen Raum. Das Fenster ist klein,
die Wände dick und aus Stahl. Bei einem Bombenalarm soll er als
Schutz dienen. Die Familie Pnishi benutzt ihn als Abstellkammer.
Hanteln, ein Bügelbrett und ein Kinderfahrrad hat er da drin. «Wenn
der Alarm losgeht, können wir die Wäsche bügeln.» Passiert ist das
noch nie.
In der Halbzeit wird Richtung Mekka gebetet
Halbzeit im HaMoshava-Stadion. 50 Fans versammeln sich vor der
Toilette. Sie stehen in einer Reihe. Einige legen den rot-weissen
Fanschal des FC Bnei Shaknin flach vor sich auf den Boden. Andere
breiten das Trikot vor ihren Füssen aus. Ihre Köpfe senken sich
Richtung Brustbein. Gleichzeitig verbeugen sich die Männer, strecken
ihre Arme aus, als würden sie einen Kopfsprung ins Wasser wagen
wollen. Dann gehen sie auf die Knie und beten Richtung Mekka.
Die Religion, der Glaube – er ist Allgegenwärtig. «Unglaublich, was
hier in Israel abgeht. Eine ganz andere Welt», sagt Pnishi. Israel
hat fast neun Millionen Einwohner, auf einer Fläche, die halb so
klein ist wie die Schweiz. Ultraorthodoxe Juden, nationalreligiöse
Siedler – und in den vergangenen Jahrzehnten gab es Zuwanderung von
Juden aus arabischen Ländern und aus der ehemaligen Sowjetunion. Das
soziale Gemisch ist explosiv, emotional. Komplettiert wird es durch
die israelischen Araber, die rund 20 Prozent der Bevölkerung
stellen.
Shaknin ist rein arabisch. 95 Prozent der Einwohner sind Muslime.
Alban Pnishi zeigt uns das Doha-Stadium, wo der FC Bnei Shaknin
seine Heimspiele austrägt. Die Tribünensitze sind voller Taubenkot.
Das Stadion ist leer. Nur ein paar Vereinsmitglieder werkeln herum.
Einer bepinselt die heruntergekommene VIP-Loge. Sechs andere schauen
zu, rufen ihm auf arabisch Wörter zu und lachen dann. Als Alban
Pnishi das Stadion betritt, wird er mit Küssen auf die Backe
empfangen. «Shalom, Alban, shalom.» Wenn die Mannschaft gewinnt,
werden die Spieler gehätschelt. «Wenn wir verlieren, sieht das
anders aus. Dann werden wir kaum begrüsst», sagt Pnishi und schaut
zu den Arabern hinüber. Als fürchte er, dass sie seine Worte
verstehen könnten.
Arabischer Bruder von Bud Spencer
Wir lernen Mohamed kennen, der für den Verein arbeitet. Er sieht aus
wie der arabische Bruder von Bud Spencer. 1,90 m gross, breit und
ein Lachen irgendwo zwischen Bass und Tenor. Er ist fröhlich drauf.
«Ich kenne nur ein Wort auf Deutsch», sagt er in gebrochenem
Araber-Englisch. «Hitler». Dann zieht sich sein ganzes Gesicht
zusammen und ein tiefes «Hahaha» dröhnt aus seiner mächtigen Kehle.
Er streckt uns die Hand entgegen. Seine Daumen haben den Durchmesser
von einer Bratwurst. «Welcome to Israel. Nice to meet you.»
Lässig lehnt sich Mohamed an das Geländer des Doha-Stadions und
erzählt uns, wie toll der FC Bnei Shaknin ist. Der arabische Verein
finanziert sich einerseits durch Sponsoring, andererseits investiert
der israelische Milliardär Arcadi Gaydamak 400 000 US-Dollar in das
Fussballteam – in der Hoffnung, Frieden für die israelischen Bürger
zu bewerben. Ob er damit Erfolg hat, kann (oder will) niemand
beantworten.
Nur auf dem Spielfeld scheint alles gleich
68. Minute im HaMoshava-Stadion. Die Blicke der Shaknin-Anhänger
sind nach wie vor neugierig. Wer sind die Europäer, die in ihrem
Sektor sind? Der 18-jährige Tamar nimmt all seinen Mut zusammen und
kommt auf die anders-aussehenden Menschen zu. «Are you a friend of
Alban Pnishi?», fragt er. «Yes.» Er dreht sich zu seinen fünf
Kumpels um, sagt einen arabischen Satz, der mit «Alban Pnishi»
endet. Sie signalisieren mit erhobenem Daumen und «High Five», dass
man jetzt dazugehört zur Shaknin-Fussballfamilie. Tamar erzählt,
dass Alban Pnishi ein Star ist. «The Wall» – die Wand – nennen sie
ihn.
Auf dem Spielfeld verteidigt Pnishi seinen Spitznamen und das Tor
erfolgreich. Seine Leistung ist sackstark. Es scheint, als wäre der
grüne Rasen der einzige Ort in Israel, wo alles gleich ist wie in
der Schweiz. Denn auch hier wird mit dem Schiedsrichter diskutiert,
man wälzt sich theatralisch auf dem Boden herum und der Gegenspieler
wird umgegrätscht. Auf der Tribüne wird mitgefiebert wie überall
sonst. Wenn der Stürmer das Tor nicht trifft, schnellen die Hände an
den Kopf, gefolgt von Fluchwörtern. Wird ein Shaknin-Spieler
gefoult, hört man ein kollektives «Heeeeeey» durch das Stadion
hallen.
Die Stimmung beim Spiel zwischen Shaknin und Jehuda ist stimmig, ja
fast schon harmonisch. Auf und neben dem Spielfeld. Doch wer glaubt,
dass all die komplexen Gegensätze von Israel bei den Fussballspielen
verschwinden, der täuscht sich. «Es gibt ein Duell, da herrscht
Fussballkrieg», erzählt Pnishi. Er habe dies vor wenigen Wochen
selbst erlebt. Jerusalem gegen Shaknin. Juden gegen Araber. Die
jüdischen Fans singen die israelische Nationalhymne, die
muslimischen die palästinensische. 20 000 Fans heizen die Stimmung
auf. «Man spürt viel aufgestauten Hass», sagt Pnishi. Die
Jerusalem-Fans bezeichnen sich als «das rassistische Fussballteam
von Israel». Ein Spieler mit arabischer Herkunft wird nicht
toleriert.
In Shaknin sehe man das «Ding mit der Religion und dem Glauben»
nicht so eng. Im Team spielen auch Juden. Selbst der Trainer ist ein
Jude. Pnishi selber geht die Lage in Israel nicht besonders nahe.
Religiöse Dogmen sind ihm fremd. Im katholischen Bremgarten ist er
aufgewachsen – mit Schweizer Werten und kosovarischen Wurzeln. Ein
Doppelbürger. Er ist ein Muslim, der seinen Glauben lebt, wie er es
für richtig hält. Er vermeidet es Schweinefleisch zu essen, aber er
betet nicht. Aber darüber spricht er nicht mit seinen
Fussballfreunden beim FC Bnei Shaknin.
Sein grösster Stolz: Frau Blerta und Tochter Dea
88. Minute im HaMoshava-Stadion. Der Glaube ist riesengross.
Shaknin, das um den Abstieg kämpft, führt immer noch mit 1:0 gegen
das Spitzenteam Jehuda. Ein Mann, der mit der Tochter am Spiel ist,
beginnt zu beten. Auf der Rückseite seines roten Fan-Pullovers steht
geschrieben: «A.R.A.B – All Racists are Bastards». Die Fans stehen
auf. Das Spiel ist gleich vorbei. Ihre Hände sind
aneinandergedrückt. Die Fingerspitzen berühren die Nase. Allah wird
von allen um Hilfe gebeten. Die Köpfe gehen immer öfter nach oben
Richtung Himmel.
Genauso wie der Kopf von Dea, wenn sie zu ihrem Papa Alban Pnishi
hochschaut – und ihn mit hochgezogenen Augenbrauen anschaut und ihre
ausgestreckten Arme sagen: «Heb mich hoch.» Sie ist ein Jahr alt und
der grosse Star im Leben von Alban und Blerta Pnishi. Blerta hat
schwarzes langes Haar und ein Lächeln wie aus der
Perl-Weiss-Werbung. Sie ist 26 Jahre alt und in Wohlen aufgewachsen.
Vor fünf Jahren hat sie Alban kennengelernt, natürlich auf dem
Fussballplatz. Es folgt eine pompöse Hochzeit im Kosovo mit 400
Gästen und zwei Jahre später Tochter Dea. Alban wollte dann seinen
Status als Profifussballer nutzen und ins Ausland gehen. Blerta war
dabei. Auf die Frage «Wie gefällt es dir in Israel?», verzieht
Blerta ihr Gesicht und wippt mit der Hand hin und her. «In Karmiel?
Geht so.»
Die Pinishi leben in Karmiel – mit vielen jüdischen Russen
Karmiel. Dort leben die Pnishis. 15 Minuten entfernt vom arabischen
Shaknin, wo Alban spielt. Im Sommer sind sie nach Israel gezogen.
Eine Stadt, die erst 1964 gegründet wurde und mittlerweile 50 000
Einwohner hat. Zukünftige Planungen gehen von bis zu 120 000
Menschen aus. Die Stadt ist grün und modern. Das Industriegebiet ist
gross, genau wie der Anteil der (jüdischen) Russen. Viele Shops sind
in Russisch angeschrieben, auf den Lebensmitteln kyrillische
Schrift. Einkaufen ist nicht ganz einfach, ebenso die Kommunikation.
«Ein Volk für sich», meint Alban Pnishi.
Ganz anders ist es in Shaknin. «Aber das ist keine Stadt, die man
unbedingt sehen muss», sagt Blerta. Alban nickt zustimmend. 30 000
Menschen, grösstenteils Araber mit israelischer Staatsangehörigkeit.
Auf der Strasse wird mitten im Kreisverkehr ein Auto repariert. Die
Frauen sind verschleiert. Die Männer rauchen. Geografisch liegt die
Stadt im Norden Israels, in den Bergen Galiläas, 50 Kilometer
entfernt von den heftig umkämpften Golanhöhen. Syrien feuert Raketen
ab, Israel schlägt mit Luftangriffen zurück. «Davon spürt man
nichts», sagt Pnishi. Der Bunker wäre aber vorhanden.
Der Familie Pnishi gefällt Tel Aviv viel besser. Die Weltstadt.
Dort, wo es viele junge Menschen gibt und Englisch gesprochen wird.
Auf den Strassen sieht man alles: Unmengen an
Elektro-Kickboard-Fahrer, Frauen in Leggins, Homosexuelle und
unfassbar gutes Essen. Touristen, junge Israelis, die sich entgegen
allen modischen Regeln kleiden, ultraorthodoxe Juden mit
Schläfenlocken (Pejot genannt) und Frauen in Militäruniform
(Wehrpflicht gilt auch für Frauen in Israel).
Auch wenn der Alltag und die Integration schwierig sind und sie die
Heimat Schweiz vermissen: Die Familie Pnishi geniesst ihr Abenteuer.
Die israelische Welt mit den vielen Rassen und Religionen und der
kriegerischen Vergangenheit und Gegenwart – sie ist enorm komplex.
«Es ist eine Lebensschule», sagen Alban und Blerta. «Und die
Menschen sind sehr nett zu uns.»
Aus dem Stadion geworfen
93. Minute. Schlusspfiff im HaMoshava-Stadion. Shaknin gewinnt 1:0.
Alban Pnishi sucht am Spielfeldrand seinen Besuch aus der Schweiz.
Nicht einfach, inmitten der jubelnden Menge. Unterwegs wird er
aufgehalten. Ein Araber, Mitte 50, will ein Selfie mit Pnishi. Ein
Lächeln, eine Umarmung, ein Foto. Pnishi geht weiter. Eine Gruppe
junger Männer ruft ihm zu. «Alban, Alban. Great Game!» Und wieder
gibts ein Erinnerungsfoto mit ihrem Star.
Nach 5 Minuten hat er es geschafft. Seine Haare sind feucht vom
anhaltenden Regen. Sein Lachen hell und seine Freude gross, als er
auf Schweizerdeutsch sagt: «Hey. Wie gehts? Hast du das Stadion gut
gefunden? Gäll, es ist crazy hier? Israel ist schon ganz anders als
zu Hause.» Dann kommt Hektik auf. Ein Security-Angesteller mit
mieser Laune pfeift alle Spieler in die Garderobe. Grund: In drei
Stunden findet bereits das nächste Spiel statt und das Stadion muss
gesäubert werden. Zuerst ignoriert Pnishi den Security. Bis er
hinter ihm steht, ihn am Oberarm packt und mit wütenden hebräischen
Worten wegzieht. «Ich muss gehen, wir sehen uns. Mega-Crazy hier»,
kann Alban Pnishi noch sagen, bevor er im Inneren des
HaMoshava-Stadions verschwindet.